Enigma
gefahren wären, hätten sie es möglicherweise übersehen: ein hölzernes Doppeltor, eine Privatstraße, mit einem rot-weißen Schlagbaum versperrt, ein Wachhäuschen, ein geheimnisvolles Schild; »W.O.Y.G., Beaumanor.«
War Office »Y« Group, Beaumanor, wobei »Y« der Codename für die Funkhorchstellen ist.
»Auf geht´s.«
Jericho mußte ihren Mut bewundern. Während er nervös nach seinem Ausweis suchte, hatte sie ihren bereits an ihm vorbei dem Wachtposten hingestreckt und forsch erklärt, daß sie erwartet würden. Der Soldat hakte ihren Namen auf einer Liste ab, ging um den Wagen herum, um die Zulassung snummer zu notieren, kehrte zum Fenster zurück, warf einen flüchtigen Blick auf Jerichos Ausweis, dann nickte er. Sie durften weiterfahren.
Beaumanor Hall war eines dieser riesigen, abgelegenen Landhäuser, die das Militär von ihren dankbaren, fast bankrotten Besitzern requiriert hatte und die, wie Jericho vermutete, niemals wieder privat genutzt werden würden. Es stammte aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, mit einer Ulmenallee auf der einen und Stallungen auf der anderen Seite, zu denen man ihnen den Weg gewiesen hatte. Sie fuhren unter einem Torbogen hindurch. Eine Gruppe kichernder junger Frauen, die sich die Mäntel als Schutz gegen den Regen wie Zelte über den Kopf hielten, rannte vor ihnen her und verschwand in einem der Gebäude. Auf dem Hof standen zwei kleine Lastwagen und eine Reihe von Motorrädern für die Kuriere. Als Jericho parkte, eilte ein uniformierter Mann mit einem riesigen, ramponierten Regenschirm auf sie zu.
»Heaviside«, sagte er. »Major Heaviside. Sie müssen Miss Wallace sein, und Sie sind…?«
»Tom Jericho.«
»Mister Jericho. Sehr gut. Ausgezeichnet.« Er schüttelte ihnen heftig die Hand. »Wir freuen uns wirklich sehr. Besuch aus dem Hauptbüro bei den Verwandten auf dem Lande. Der Commander läßt sich vielmals entschuldigen und bittet um Verständnis, daß ich Sie herumführe. Er wird versuchen, später zu uns zu stoßen. Tut mir leid, daß Sie das Mittagessen verpaßt haben, aber wie wäre es mit Tee? Scheußliches Wetter…«
Jericho war auf ein paar argwöhnische Fragen gefaßt gewesen und hatte die Fahrt benutzt, um sich passende Antworten auszudenken, aber der Major hielt lediglich seinen undichten Schirm über sie und führte sie ins Haus. Er war jung und hochgewachsen, mit sich lichtendem Haar und einer so verschmutzten Brille, daß es ein Wunder war, daß er überhaupt etwas dadurch sehen konnte. Er hatte abfallende Schultern, die an eine Flasche erinnerten, und der Kragen seiner Uniformjacke war mit Schuppen übersät. Er führte seine Gäste in einen kalten und muffigen Salon und bestellte Tee.
Inzwischen war er mit seiner kurzen Geschichte des Hauses fertig (»erbaut von demselben Burschen, von dem auch die Nelson-Säule in London stammt, hat man mir gesagt«) und ließ sich nun weitschweifig über die Geschichte der Funkhorchstellen aus (»hat in Chatham angefangen, bis die Bombardierung zu schlimm wurde…«). Hester nickte höflich. Ein weiblicher Soldat brachte ihnen Tee, der so dick und braun war wie Schuhcreme, und Jericho nippte daran und ließ den Blick ungeduldig über die leeren Wände wandern. Da waren Löcher im Putz, wo man die Bilderhaken herausgerissen hatte, und schmutzige Schatten zeichneten die Umrisse großer Bilder nach, die man entfernt hatte. Ein Ahnensitz ohne Ahnen, ein Haus ohne Seele. Die Fenster zum Garten hin waren kreuzweise mit Klebebandstreifen beklebt. Jericho griff nach seiner Taschenuhr und klappte sie auf. Fast drei. Sie mußten sich bald wieder auf den Weg machen.
Hester bemerkte seine Unruhe. »Vielleicht«, sagte sie, eine kurze Pause im Redeschwall des Majors ausnutzend, »könnten wir uns ein wenig umsehen?«
Heaviside schaute überrascht drein, und seine Teetasse klapperte auf die Untertasse. »Ach herrje, Entschuldigung. Okay. Wenn Sie sich genügend ausgeruht haben, können wir losgehen.«
Der Regen war jetzt mit Schnee vermischt, und der Wind wehte in schweren Böen von Norden. Als sie um die Ecke des großen Hauses bogen, peitschte er ihnen ins Gesicht, und als sie sich ihren Weg durch den Schlamm eines ehemaligen Rosengartens bahnten, mußten sie die Arme heben wie Boxer, die Schläge abwehren. Hinter einer Mauer war ein seltsames schrilles, heulendes Geräusch zu vernehmen, wie Jericho es noch nie gehört hatte.
»Was zum Teufel ist das?«
»Die Antennen«, sagte Heaviside.
Jericho hatte
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