Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
er, plötzlich gereizt, »meinen Sie nicht, wir sollten endlich zur Sache kommen, Guy. Ich meine, Tee vor einer Gasheizung im College und Reden über alte Zeiten, das ist ja alles ganz nett, aber…«
    »Wir sind bei der Sache, alter Junge.« Logie zog die Knie unters Kinn und legte die Hände um die Schienbeine. »Shark, Limpet, Dolphin, Oyster, Porpoise, Winkle (Hai, Meerschnekke, Delphin, Auster, Tümmler, Strandschnecke). Die sechs kleinen Meerestiere in unserem Aquarium, die sechs Codes der deutschen Marine. Und Shark ist der größte von ihnen.« Er starrte ins Feuer, und zum erstenmal hatte Jericho Gelegenheit, sein Gesicht zu betrachten, das in dem blauen Licht wie ein gespenstischer Schädel aussah. Die Augenhöhlen waren finstere Löcher. Er sah aus wie ein Mann, der seit Wochen nicht mehr geschlafen hat. Er gähnte abermals. »Wissen Sie, unterwegs im Wagen habe ich versucht, mich zu erinnern, wer auf die Idee gekommen ist, ihm den Namen Shark zu geben.«
    »Das weiß ich auch nicht mehr«, sagte Jericho. »Es könnte Alan gewesen sein. Oder vielleicht ich selbst. Aber welche Rolle spielt das jetzt noch? Der Name bot sich einfach an. Niemand erhob Einwände. Shark war der perfekte Name dafür. Wir wußten von Anfang an, daß er ein Monster würde.«
    »Und das war er.« Logie paffte an seiner Pfeife. Er verschwand langsam hinter einer Rauchschwade. Der Kriegstabak roch wie verbranntes Heu. »Und das ist er.«
    Die Art, wie er diese letzten Worte aussprach - mit einem leichten Zögern -, veranlaßte Jericho, jäh aufzublicken.
     
    Die Deutschen nannten ihn Triton, nach dem Sohn Poseidons, dem Meeresgott, der in eine Spiralmuschel blies, um die Furien der Tiefe heraufzubeschwören. »Deutscher Humor«, hatte Puck gestöhnt, als sie den Codenamen entdeckt hatten. »Verdammter deutscher Humor ...« Aber in Bletchley blieben sie bei Shark. Es war eine Tradition, und da sie Briten waren, liebten sie ihre Traditionen. Sie gaben allen feindlichen Codes die Namen von Meerestieren. Den wichtigsten deutschen Marinecode nannten sie Dolphin. Porpoise war der Enigma-Code für die Überwasserfahrzeuge und den Schiffsverkehr im Mittelmeer und im Schwarzen Meer. Oyster war eine Variante von Dolphin »nur für Offiziere«, und Winkle war eine Variante von Porpoise »nur für Offiziere«.
    Und Shark? Shark war der Operationscode der U-Boote.
    Shark war einzigartig. Alle anderen Codes wurden mit einem mit drei Walzen arbeitenden Standardmodell der Chiffriermaschine Enigma erzeugt. Aber Shark stammte von einer Enigma mit einer speziell entwickelten vierten Walze, wodurch der Code sechsundzwanzigmal schwerer zu knacken war. Nur U-Boote durften diese Maschine benutzen.
    Sie wurde am 1. Februar 1942 in Betrieb genommen, und in Bletchley tappte man fast völlig im dunkeln.
    Jericho erinnerte sich, daß die folgenden Monate ein einziger Alptraum gewesen waren. Vor der Inbetriebnahme von Shark hatten die Kryptoanalytiker in Baracke 8 die meisten U- Boot-Funksprüche binnen eines Tages nach dem Auffangen entschlüsseln können, wodurch reichlich Zeit blieb, die Geleitzüge an den Wolfsrudeln von deutschen U-Booten vorbeizudirigieren. Aber in den zehn Monaten nach der Einführung von Shark entschlüsselten sie nur drei Funksprüche, und selbst dazu brauchten sie jedesmal siebzehn Tage, so daß die Information, wenn sie dann endlich eintraf, praktisch nutzlos, weil längst überholt war.
    Um sie bei ihren Bemühungen anzustacheln, wurde in ihrer Baracke eine Tabelle aufgehängt, aus der hervorging, wieviel Schiffstonnage jeden Monat von den U-Booten im Nordatlantik versenkt worden war. Im Januar, vor der Einführung des neuen Codes, vernichteten die Deutschen 48 Schiffe der Alliierten. Im Februar waren es 73, im März 95, im Mai 129…
    »Das Ausmaß unseres Versagens«, sagte Skynner, der Chef der Marineabteilung, bei einer seiner hochtrabenden Wochenansprachen, »bemißt sich nach der Anzahl der Ertrunkenen.«
    Im September wurden 95 Schiffe versenkt. Im November 93…
    Und dann kamen Fasson und Grazier.
    In der Ferne schlug die College-Uhr. Jericho ertappte sich dabei, wie er die Schläge zählte.
    »Alles in Ordnung, alter Junge? Sie sind ja plötzlich so schweigsam.«
    »Tut mir leid. Ich habe nachgedacht. Erinnern Sie sich an Fasson und Grazier?«
    »Fasson und… wen? Tut mir leid, ich glaube nicht, daß ich die je kennengelernt habe.«
    »Nein. Ich auch nicht. Keiner von uns hat sie gekannt.«
    Fasson und Grazier. Ihre

Weitere Kostenlose Bücher