Enigma
Vornamen hatte er nie erfahren. Ein Oberleutnant und ein Vollmatrose. Ihr Zerstörer hatte im östlichen Mittelmeer ein U-Boot gestellt, die U-559. Sie hatten es mit Wasserbomben zum Auftauchen gezwungen. Es war ungefähr zehn Uhr abends gewesen. Eine rauhe See. Ein Sturm zog auf. Nachdem die überlebenden Deutschen das U-Boot verlassen hatten, zogen sich die beiden britischen Seeleute aus und schwammen im Licht von Suchscheinwerfern hinüber. Das U-Boot lag bereits tief im Wasser, der Kommandoturm war bei der Beschießung leckgeschlagen worden, und jetzt lief das Schiff schnell voll. Sie hatten ein Bündel geheimer Papiere aus dem Funkraum heraufgeholt und sie dem Enterkommando in einem längsseits liegenden Boot ausgehändigt. Dann waren sie noch einmal hineingestiegen, um die Enigma-Maschine zu holen, als der Bug des U-Boots plötzlich in die Höhe fuhr und es sank. Sie gingen mit ihm unter, eine halbe Meile tief, hatte der Mann von der Marine gesagt, als er ihnen in Baracke 8 die Geschichte erzählte. »Wir können nur hoffen, daß sie tot waren, bevor sie unten aufgeprallt sind.«
Und dann hatte er die Codebücher auf den Tisch gelegt. Das war am 24. November 1942 gewesen. Nachdem sie rund neuneinhalb Monate im dunkeln getappt waren.
Auf den ersten Blick schienen sie den Preis von zwei Menschenleben kaum wert zu sein: zwei kleine Broschüren, das Kleine Signalbuch und die Kleine Wetterchiffre, mit wasserlöslicher Druckerschwärze auf rosa Löschpapier gedruckt; der Funker sollte sie beim ersten Anzeichen von Gefahr ins Meer werfen. Aber für Bletchley waren sie unbezahlbar, wertvoller als alle versunkenen Schätze, die je aus dem Meer geborgen worden waren. Jericho kannte sie sogar jetzt noch Wort für Wort auswendig. Er schloß die Augen, und die Symbole waren immer noch da, in seine Netzhaut eingeätzt. » T = Lufttemperatur in ganzen Celsius - Graden, +28 C = a. +27 C = b. +26 C = c…«
U-Boote lieferten täglich Wetterberichte. Lufttemperatur, Luftdruck, Windstärke, Wolkendecke… Die Kleine Wetterchiffre hatte diese Daten auf ein halbes Dutzend Buchstaben reduziert. Dieses halbe Dutzend Buchstaben wurde mit der Enigma überschlüsselt. Dann wurde die Nachricht von dem U-Boot im Morsecode gesendet und von den Küstenwetterstationen der deutschen Marine aufgefangen. Aus dem von den U-Booten gelieferten Material erstellten die Wetterstationen ihre eigenen meteorologischen Berichte. Diese Berichte wurden dann, ein oder zwei Stunden später, gleichfalls gesendet, in dem von einer Enigma mit drei Walzen überschlüsselten Wettercode - einem Code, den Bletchley knacken konnte -, der von allen deutschen Schiffen benutzt wurde.
Das war die Hintertür zu Shark.
Zuerst las man den Wetterbericht. Dann übersetzte man den Bericht zurück in die Kleine Wetterchiffre. Und was dann, nach einem Prozeß logischer Deduktion, herauskam, war der Klartext, der in die Enigma mit den vier Walzen eingegeben worden war. Es war die perfekte Hilfe, der Traum jedes Kryptoanalytikers.
Aber knacken konnten sie Shark immer noch nicht.
Jeden Tag fütterten die Analytiker, darunter auch Jericho, ihre möglichen Lösungen in die »Bomben« ein - riesige elektromechanische Computer, jeder von der Größe eines begehbaren Kleiderschrankes, die sich anhörten wie Strickmaschinen - und warteten darauf zu erfahren, daß jemand richtig geraten hatte. Und nie erhielten sie eine Antwort. Das Problem war einfach zu groß. Sogar bei einer Nachricht, die von einer Enigma mit drei Walzen verschlüsselt worden war, konnte es vierundzwanzig Stunden dauern, bis die richtige Schlüsseleinstellung gefunden war, während die Bomben durch Milliarden von Permutationen ratterten. Die Entschlüsselung einer Nachricht von einer Enigma mit vier Walzen, bei der die Möglichkeiten mit dem Faktor sechsundzwanzig multipliziert werden mußten, konnte theoretisch fast einen Monat dauern.
Drei Wochen arbeitete Jericho rund um die Uhr, und wenn er es schaffte, ein oder zwei Stunden zu schlafen, dann träumte er immer wieder von Ertrunkenen. »Wir können nur hoffen, daß sie tot waren, bevor sie unten aufgeprallt sind…«
Sein Verstand bewegte sich jenseits der Müdigkeit und schmerzte körperlich wie ein überanstrengter Muskel. Er begann unter Blackouts zu leiden. Sie dauerten nur Bruchteile von Sekunden, aber sie waren ziemlich beängstigend. In einem Augenblick arbeitete er, über seinen Rechenschieber gebeugt, in der Baracke, und im nächsten verschwamm
Weitere Kostenlose Bücher