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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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alles und ruckte weiter, als hätte ein Film im Projektor einen Sprung gemacht. Er schaffte es, sich vom Lagerarzt Benzedrin verschreiben zu lassen, aber das verschlimmerte seine Stimmungsschwankungen, und auf seine überdrehten Hochs folgten immer länger andauernde Tiefs.
    Verblüffenderweise hatte die Lösung, als man sie endlich fand, überhaupt nichts mit Mathematik zu tun, und hinterher machte er sich wütend Vorwürfe, weil er sich zu sehr in Details verbissen hatte. Wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte er vielleicht Abstand gewinnen und früher darauf kommen können.
    Es war ein Samstag abend. Der zweite Samstag im Dezember. Gegen neun hatte Logie ihn nach Hause geschickt. Jericho hatte versucht zu widersprechen, aber Logie hatte gesagt: Nein, wenn Sie in diesem Tempo weitermachen, bringen Sie sich um, und davon hat niemand etwas, mein Bester, Sie am allerwenigsten. Also war Jericho müde auf seinem Fahrrad zu seinem Quartier über der Gaststätte in Shenley Church End zurückgefahren und unter die Bettdecke gekrochen. Er hörte, wie unten zur letzten Bestellung aufgefordert wurde, wie die letzten paar Stammgäste aufbrachen und das Lokal geschlossen wurde. In den Stunden nach Mitternacht lag er da, starrte an die Decke und fragte sich, ob er jemals wieder würde schlafen können, und sein Gehirn rotierte wie eine Maschine, die sich nicht abschalten ließ.
    Seit dem Auftauchen von Shark war offensichtlich gewesen, daß die einzig akzeptable, auf lange Sicht brauchbare Lösung darin bestand, die Bomben so umzukonstruieren, daß sie die vierte Walze einbezogen. Aber das war ein alptraumhaft langwieriger Prozeß. Wenn sie nur irgendwie die Mission, die Fasson und Grazier so heldenhaft begonnen hatten, zu Ende führen und eine Shark-Enigma-Maschine stehlen konnten! Das würde die Neukonstruktion vereinfachen. Aber Shark-Enigmas waren die Kronjuwelen der deutschen Marine. Nur die U-Boote hatten sie. Nur die U-Boote und, natürlich, das Verbindungshauptquartier der U-Boote in Sainte-Assise südöstlich von Paris.
    Ein Kommandounternehmen auf Sainte-Assise vielleicht? Ein Einsatz von Fallschirmspringern? Er spielte einen Moment mit dieser Vorstellung und ließ sie dann fallen. Unmöglich. Und ohnehin sinnlos. Selbst wenn sie durch irgendein Wunder mit einer Maschine entkommen konnten, würden die Deutschen Bescheid wissen und zu einem anderen Kommunikationssystem überwechseln. Bletchleys Zukunft beruhte darauf, daß die Deutschen auch weiterhin überzeugt waren, Enigma wäre unentschlüsselbar. Man durfte nichts unternehmen, was diese Zuversicht gefährdete.
    Moment mal. Jericho fuhr hoch. Moment mal.
    Wenn nur die U-Boote und die Zentrale in Sainte-Assise Enigmas mit vier Walzen haben durften - und Bletchley wußte ganz genau, daß dies der Fall war -, wie zum Teufel konnten dann die Küsten-Wetterstationen die Funksprüche der U- Boote dechiffrieren?
    Das war eine Frage, die sich bisher niemand gestellt hatte, und doch war sie von fundamentaler Bedeutung.
    Um eine von einer Maschine mit vier Walzen verschlüsselte Botschaft lesen zu können, brauchte man eine Maschine mit vier Walzen.
    Oder etwa nicht?
    Wenn es stimmt, daß Genie, wie einmal jemand gesagt hat, »das Aufzucken eines Blitzes im Gehirn« ist, dann wußte Jericho in diesem Augenblick, was Genie war. Er sah die Lösung vor sich aufleuchten wie eine Landschaft.
    Er griff nach seinem Morgenrock und zog ihn über seinen Schlafanzug. Er schnappte sich Mantel, Schal, Socken und Stiefel, und in weniger als einer Minute saß er auf seinem Fahrrad und strampelte im Mondlicht auf der Landstraße nach Bletchley Park. Die Sterne waren hell, der Boden steinhart gefroren. Er fühlte sich seltsam euphorisch, lachte wie ein Irrer, lenkte sein Fahrrad direkt über die gefrorenen Pfützen am Straßenrand, wobei die Eisdecken unter seinen Reifen zerbarsten wie Trommelfelle. Bergab rollte er im Freilauf nach Bletchley hinein. Das offene Land blieb hinter ihm zurück, und unter ihm lag im Mondlicht die Stadt, düster und häßlich wie immer, aber in dieser Nacht wundervoll, so schön wie Prag oder Paris, wie sie sich beiderseits eines glänzenden Flusses aus Eisenbahngleisen ausbreitete. In der unbewegten Luft konnte er hören, wie eine halbe Meile entfernt ein Zug auf ein Abstellgleis rangiert wurde. Das plötzliche hektische Stampfen einer Lokomotive, gefolgt von wiederholtem Rumpeln, dann ein langes Ablassen von Dampf. Ein Hund bellte, und ein anderer

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