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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Seit er nach Cambridge gekommen war, hatte er nichts gekauft außer einer Tageszeitung, und so trug er genau das hinaus, was er drei Wochen zuvor hineingetragen hatte: zwei mit Kleidungsstükken gefüllte Koffer, ein paar Bücher, einen Füllfederhalter, einen Rechenschieber und Bleistifte, ein Schachspiel im Taschenformat und ein Paar Wanderstiefel. Er legte seine Koffer aufs Bett und ging langsam im Zimmer herum, um seine Habseligkeiten einzusammeln, während Logie ihm von der Tür aus zuschaute.
    In seinem Kopf, aus den verborgenen Tiefen seines Unterbewußtseins zum Vorschein gekommen, spulte sich immer und immer wieder ein altes Kinderlied ab: »Weil ein Nagel fehlte, war das Pferd verloren; weil das Pferd fehlte, war der Reiter verloren; weil der Reiter fehlte, war die Schlacht verloren; weil die Schlacht fehlte, war das Königreich verloren; und alles nur, weil ein Hufnagel fehlte…«
    Er faltete ein Hemd zusammen und legte es auf seine Bücher.
    Weil ein Wetter-Codebuch fehlte, konnten sie die Schlacht im Atlantik verlieren. So viele Männer, so viel Material waren gefährdet wegen einer solchen Kleinigkeit wie der Änderung eines Wettercodes. Es war absurd.
    »Man merkt jedem an, ob er im Internat gewesen ist«, sagte Logie. »Solche Leute reisen immer mit leichtem Gepäck. Wegen all der endlosen Bahnfahrten, nehme ich an.«
    »Mir ist es so lieber.«
    Er stopfte ein Paar Socken in den Koffer. Er würde zurückkehren. Sie wollten ihn wiederhaben. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er glücklich war oder sich davor fürchtete.
    »In Bletchley haben Sie auch nicht viel Zeug, nicht wahr?« Jericho drehte sich um und sah ihn an.
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ach.« Logie war sichtlich verlegen. »Tut mir leid, aber wir mußten Ihre Sachen zusammenpacken und Ihr Zimmer - äh - jemand anders geben. Raumknappheit und all das.«
    »Sie haben nicht geglaubt, daß ich wiederkommen würde?«
    »Drücken wir es so aus - wir haben nicht gewußt, daß wir Sie schon so bald wieder brauchen würden. Auf jeden Fall haben wir für Sie eine neue Unterkunft in der Stadt. Das ist bestimmt bequemer für Sie. Keine langen Radtouren mehr mitten in der Nacht.«
    »Ich mag lange Radtouren so spät in der Nacht. Sie klären den Verstand.« Jericho schloß die Deckel seiner Koffer und ließ die Schlösser einschnappen.
    »Sind Sie dem auch wirklich gewachsen, alter Junge? Niemand möchte Sie zu irgend etwas zwingen.«
    »Ich bin in wesentlich besserer Verfassung als Sie, nach Ihrem Aussehen zu urteilen.«
    »Ich möchte nur nicht, daß Sie das Gefühl haben, unter Druck gesetzt worden zu sein…«
    »Hören Sie endlich auf damit, Guy.«
    »Okay. Schließlich haben wir Ihnen ja kaum eine andere Wahl gelassen. Soll ich Ihnen helfen?«
    »Wenn es mir gut genug geht, um nach Bletchley zurückzukehren, geht es mir auch gut genug, um mit zwei Koffern zurechtzukommen.«
    Er trug sie zur Tür und schaltete das Licht aus. Im Wohnzimmer schaltete er die Gasheizung aus und schaute sich ein letztes Mal um. Das abgeschabte Sofa. Die verkratzten Stühle. Der kahle Kaminsims. Das war sein Leben, dachte er, ein billig möbliertes Zimmer nach dem anderen, von britischen Institutionen zur Verfügung gestellt: von der Schule, dem College, der Regierung. Er fragte sich, wie wohl sein nächstes Zimmer aussehen würde. Logie öffnete die Türen und schaltete die Schreibtischlampe aus.
    Auf der Treppe war es dunkel. Die Birne war seit langem durchgebrannt. Logie leuchtete ihnen die Steinstufen hinunter, indem er ein Streichholz nach dem anderen anriß. Unten angekommen, konnten sie gerade den Umriß von Leveret erkennen, der dort Wache hielt; seine Silhouette wurde von der dunklen Masse der Chapel gerahmt. Seine Hand fuhr in die Tasche.
    »Schon gut, Mister Leveret«, sagte Logie. »Ich bin´s. Mister Jericho fährt mit uns.«
    Leveret hatte eine Verdunkelungs-Taschenlampe, ein billiges Ding, das mit Seidenpapier umwickelt war. In ihrem schwachen Lichtstrahl und mit Hilfe des letzten Tageslichts am Himmel suchten sie sich ihren Weg durchs College. Als sie am Speisesaal vorbeikamen, hörten sie das Klappern von Besteck und die Stimmen der Essenden, und Jericho überkam ein Gefühl des Bedauerns. Sie passierten die Pförtnerloge und gingen durch eine mannsgroße, in das hohe Eichentor eingelassene Pforte. An einem der Fenster der Loge erschien ein Lichtspalt, weil jemand drinnen den Vorhang ein Stückchen zur Seite schob. Leveret ging vor ihm und Logie

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