Enigma
daraufkletterte, aber er schaffte es trotzdem, sich auf die verrußte Mauer zu schwingen. Einen Augenblick lang verlor er das Gleichgewicht und wäre fast kopfüber auf den Betonweg gestürzt, aber dann fand er wieder Halt und zog die Beine nach.
In der Ferne das Pfeifen eines Zuges.
So war er seit fünfzehn Jahren nicht mehr gerannt, nicht, seit er ein Schuljunge gewesen und bei einem Fünf-Meilen- Hindernislauf angefeuert worden war. Aber hier waren sie wieder, so gemein wie früher, die vertrauten Folterinstrumente - das Messer in seiner Seite, die Säure in seinen Lungen, der Metallgeschmack in seinem Mund.
Er rannte durch den Hintereingang in den Bahnhof von Bletchley und jagte um die Ecke auf den Bahnsteig, zwischen einer Wolke aus bleifarbenen Tauben hindurch, die mit den Flügeln schlugen, schwerfällig aufflogen und sich dann wieder niederließen. Seine Füße dröhnten auf dem eisernen Steg. Er nahm zwei Stufen auf einmal und rannte über die Signalbrükke. Die Lokomotive fuhr langsam unter ihm hindurch, und beiderseits von ihm quoll eine Fontäne aus weißem Rauch auf.
Es war noch früh am Tage, nur wenige Leute warteten auf den Zug, und Jericho hatte die halbe Treppe zum Bahnsteig für die nordwärts fahrenden Züge hinter sich gebracht, als er Puck entdeckte, der fünfzig Meter entfernt mit einem kleinen Koffer in der Hand dicht an der Bahnsteigkante stand und langsam den Kopf drehte, um dem Vorbeigleiten der Abteile beim Einfahren des Zuges zu folgen. Jericho blieb stehen und umklammerte das Geländer, lehnte sich vor und keuchte nach Luft. Die Wirkung des Benzedrins ließ offensichtlich nach. Als der Zug endlich mit einem Ruck zum Stehen kam, schaute Puck sich um, dann ging er gelassen auf den vorderen Zugteil zu, öffnete eine Tür und verschwand. Jericho stützte sich am Geländer ab, stieg die letzten paar Stufen hinab und kippte beinahe in ein leeres Abteil.
Er mußte ohnmächtig geworden sein, und zwar für mehrere Minuten, denn er hörte weder das Zuschlagen der Tür hinter sich noch das Abfahrtssignal. Das nächste, was wieder in sein Bewußtsein drang, war eine schaukelnde Bewegung. Die Rückenlehne an seiner Wange fühlte sich warm und staubig an, und er spürte den beruhigenden Rhythmus der Räder - da-da-di-di, di-di-da-da, da-da-di-di… Er öffnete die Augen. Bläuliche, rosa gesäumte Wölkchen glitten langsam über ein Quadrat aus weißem Himmel. Es war alles wunderhübsch wie ein Kinderzimmer, und er wäre wieder eingeschlafen, wenn ihm nicht vage in den Sinn gekommen wäre, daß da etwas Dunkles und Bedrohliches war, wovor er Angst haben sollte, und dann fiel es ihm wieder ein.
Er richtete sich auf und faßte sich an seinen schmerzenden Kopf. Er schüttelte ihn und ließ ihn in Achterfiguren kreisen, dann zog er das Fenster herunter und hielt ihn in den kalten Luftzug. Keine Spur von irgendeiner Stadt. Nur flaches, von Hecken durchzogenes Land, durchsetzt mit Scheunen und Teichen, die in der Morgensonne funkelten. Die Strecke beschrieb eine flache Kurve, so daß er vor sich die Lokomotive sehen konnte, die ihr langes Rauchbanner über einer schwarzen Mauer aus Waggons flattern ließ. Sie fuhren auf der Hauptstrecke in Richtung Westküste nach Norden, was bedeutete - er versuchte sich zu erinnern -, daß die nächste Station Northampton war, dann kamen Coventry, Birmingham, Manchester (vermutlich), Liverpool…
Liverpool?
Liverpool. Und dann die Fähre über die Irische See… Großer Gott.
Er war verblüfft von der Unwirklichkeit des Ganzen und gleichzeitig von seiner Einfachheit, seiner Offensichtlichkeit. Über der gegenüberliegenden Sitzreihe befand sich eine Notbremse (»Strafe für Mißbrauch: 20 Pfund«), und sein erster Gedanke war, sie zu ziehen. Aber was dann? Denk nach. Er würde dastehen, unrasiert, ohne Fahrkarte, mit drogenverklärten Augen, und versuchen müssen, einen skeptischen Schaffner davon zu überzeugen, daß in diesem Zug ein Verräter saß, während Puck - was würde Puck tun? Er würde einfach aussteigen und verschwinden. Jericho erkannte plötzlich die ganze Absurdität seiner eigenen Situation. Er hatte nicht einmal genügend Geld bei sich, um eine Fahrkarte zu kaufen. Alles, was er hatte, war eine Tasche voll Kryptogramme.
Sieh zu, daß du sie los wirst.
Er zog sie aus der Tasche und riß sie in kleine Stücke, dann steckte er den Kopf zum Fenster hinaus und ließ sie im Fahrtwind davonflattern. Sie wurden weggefegt, hochgeweht, über das
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