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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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lange Schritte und hin und wieder ein kurzer Sprint -, wobei er sich am Rande des Gehsteigs hielt, den Abhang hinunter und in die schlafende Stadt hinein. Vor der Kneipe waberte ein seifiger Geruch nach dem Bier vom vergangenen Abend. Die Methodistenkapelle ein paar Türen weiter war dunkel und verschlossen, ihre abblätternde Tafel seit dem Ausbruch des Krieges unverändert: »Bereut eure Sünden, denn das Himmelreich ist nahe.« Er ging unter der Eisenbahnbrücke hindurch. Von der gegenüberliegenden Straßenseite zweigte die Albion Street ab, und ein Stückchen weiter lag der Arbeiterklub von Bletchley (»Die Genossenschaft veranstaltet einen Vortrag von Ratsherr A. E. Braithwaite: Die sowjetische Wirtschaft, ihre Lehren für uns.«) Nach weiteren zwanzig Metern bog er nach links in die Alma Terrace ein.
    Es war eine Straße wie viele andere, mit einer doppelten Reihe von Backsteinhäuschen, die parallel zu den Eisenbahngleisen verlief. Nummer neun war das genaue Ebenbild all der anderen: zwei kleine Fenster oben und eines unten, wie in Trauer mit schwarzen Verdunkelungsvorhängen verhüllt, ein spatenlanger Vorgarten mit einer Mülltonne und eine Holzpforte zur Straße. Die Pforte war zerbrochen, das graue Holz zersplittert oder glatt wie Treibholz, und Jericho mußte sie anheben, um sie zu öffnen. Er drehte am Türknauf - abgeschlossen. Dann hämmerte er mit der Faust gegen die Tür.
    Ein lautes Husten - es kam so prompt wie das Bellen eines Wachhundes. Er trat einen Schritt zurück, und nach ein paar Sekunden wurde einer der oberen Vorhänge einen Spaltbreit geöffnet. Er rief: »Puck, ich muß mit Ihnen reden.«
    Ein stetiges Hufgeklapper. Er schaute sich um und sah einen Kohlenwagen, der gerade in die Straße einbog. Er fuhr langsam an ihm vorbei, und der Fahrer musterte ihn lange und eingehend, dann ruckte er kurz an den Zügeln, und das große Pferd reagierte sofort, indem es das Tempo des Hufschlags erhöhte. Hinter sich hörte Jericho, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde. Die Tür ging ein paar Zentimeter auf, und eine alte Frau lugte heraus.
    »Bitte, enschuldigen Sie«, sagte Jericho, »ein Notfall. Ich muß mit Mister Pukowski reden.«
    Sie zögerte, dann ließ sie ihn ein. Sie war nur knapp eins fünfzig groß, ein Gespenst in einem blaßblauen, gesteppten Morgenrock, den sie über ihrem Nachthemd zusammenhielt. Sie sprach mit der Hand vor dem Mund, und er begriff, daß es ihr peinlich war, weil sie ihr Gebiß nicht eingesetzt hatte.
    »Er ist in seinem Zimmer.«
    »Könnten Sie es mir zeigen?«
    Sie schlurfte den Korridor entlang, und er folgte ihr. Das Husten von oben war heftiger geworden. Es schien die Decke zu erschüttern, den verrußten Lampenschirm in Schwingung zu versetzen.
    »Mister Puck?« Sie klopfte an die Tür. »Mister Puck?« Sie sagte zu Jericho: »Vermutlich schläft er noch. Er ist erst sehr spät gekommen.«
    »Lassen Sie mich nachsehen. Darf ich?«
    Das kleine Zimmer war leer. Jericho hatte es mit drei Schritten durchquert und zog die Vorhänge auf. Graues Licht erhellte das Reich des Exilierten: ein Bett, ein Waschtisch, ein Kleiderschrank, ein Holzstuhl, ein kleiner Spiegel aus dickem rosa Kristallglas mit eingravierten Vögeln, der an einer Metallkette über dem Kamin hing. Das Bett sah aus, als hätte er nicht darin geschlafen, sondern nur darauf gelegen, und eine Untertasse am Kopfende war randvoll mit Zigarettenstummeln.
    Er wendete sich zum Fenster um. Die unvermeidlichen Gemüsebeete und der ringförmige Bombenschutzraum. Eine Mauer.
    »Was ist da drüben?«
    »Aber die Tür war verriegelt…«
    »Auf der anderen Seite der Mauer? Was ist da?«
    Sie hielt noch immer ihre Hand vor den Mund und schaute ihn erschrocken an. »Der Bahnhof.«
    Er versuchte, das Fenster zu öffnen. Es klemmte und ließ sich nicht bewegen.
    »Gibt es eine Hintertür?«
    Sie führte ihn durch eine Küche, die sich seit der Viktorianischen Zeit kaum verändert haben konnte. Eine Mangel. Eine Handpumpe, um das Wasser in den Ausguß zu befördern…
    Die Hintertür war nicht abgeschlossen.
    »Es ist ihm doch hoffentlich nichts passiert?« Sie dachte jetzt nicht mehr an ihr Gebiß. Ihr Mund zitterte, die Haut rundum war verrunzelt, eingesunken, braun.
    »Bestimmt nicht. Gehen Sie wieder zu Ihrem Mann.«
    Jetzt verfolgte er Pucks Spur. Fußabdrücke - große Fußabdrücke - führten zwischen den Gemüsebeeten hindurch. An der Mauer stand eine Teekiste. Sie bog sich und splitterte, als Jericho

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