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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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schwankenden Revolver; der Kryptoanalytiker zwischen ihnen - und dann passierten mehrere Dinge mehr oder weniger gleichzeitig. Der Schaffner sagte: »Geben Sie das Ding her«, und trat einen Schritt auf Puck zu. Die Waffe ging los. Der Knall wirkte wie ein körperlicher Schlag. Der Schaffner gab ein verstörtes »Uff?« von sich und schaute herunter auf seinen Bauch, als hätte er einen Anfall von Magengrimmen. Die Räder des Zuges blockierten und kreischten, und plötzlich lagen alle miteinander auf dem Boden.
    Es kann sein, daß Jericho der erste war, der sich wieder erhob. Auf jeden Fall hatte er eine Erinnerung, daß er Puck unter dem Schaffner hervorgezogen und ihm auf die Beine geholfen hatte, während der Schaffner ein fürchterliches Wimmern von sich gab und überall blutete - aus Mund und Nase, aus seiner Uniformjacke, sogar aus den Hosenbeinen.
    Jericho beugte sich über ihn und sagte ziemlich hilflos, weil er noch nie einen Verletzten gesehen hatte: »Er braucht einen Arzt.« Auf dem Gang bewegte sich etwas. Er drehte sich um und sah, daß Puck die Tür nach draußen geöffnet hatte und den Smith and Wesson auf ihn richtete. Er umklammerte das Gelenk der Hand, mit der er die Waffe hielt, und stöhnte, als hätte er es sich verstaucht. Jericho schloß in Erwartung der Kugel die Augen, und Puck sagte - und dessen war Jericho sich ganz sicher, weil er die Worte in seinem präzisen Englisch sehr deutlich sprach -: »Ich habe sie getötet, Thomas. Es tut mir entsetzlich leid.«
    Dann verschwand er.
    Inzwischen war es Viertel nach sieben - 7.17 Uhr dem amtlichen Bericht zufolge -, und der Tag war angebrochen. Jericho stand auf der Schwelle des Wagens und hörte die Amseln in einem nahen Wäldchen und eine Lerche über dem Feld singen. Auf der ganzen Länge des Zuges schlugen Türen auf, und Leute sprangen hinaus in den Sonnenschein. Die Lokomotive ließ Dampf ab, und dahinter kam eine Gruppe Soldaten hervor, angeführt - zu Jerichos Erstaunen - von Wigram. Weitere Soldaten schwärmten aus dem Zug aus. Puck war nur ungefähr zwanzig Meter entfernt. Jericho sprang auf die grauen Steine neben den Gleisen und rannte hinter ihm her.
    Jemand schrie sehr laut, fast direkt hinter ihm: »Aus dem Weg, Sie verdammter Idiot!« - ein weiser Ratschlag, den Jericho ignorierte.
    Damit konnte es nicht enden, dachte er, nicht jetzt, wo es noch so viel herauszufinden galt.
    Er war völlig erledigt. Seine Beine waren schwer. Aber Puck kam auch nicht sonderlich gut voran. Er humpelte über eine Wiese und zog den linken Fuß nach, da er, wie sich später bei der Autopsie herausstelle, einen Spaltbruch am Knöchel davongetragen hatte - ob bei seinem Sturz im Abteil oder bei seinem Sprung aus dem Zug, ließ sich nicht feststellen, aber das Laufen mußte eine Qual für ihn gewesen sein. Eine kleine Herde von Jersey-Rindern beobachtete ihn, wiederkäuend, wie Zuschauer an einer Rennstrecke.
    Das Gras duftete süß, die Hecken waren voller Knospen, und Jericho war sehr nahe an ihn herangekommen, als Puck sich umdrehte und seine Pistole abfeuerte. Er konnte nicht auf Jericho gezielt haben - der Schuß ging irgendwo ins Leere. Es war lediglich eine Abschiedsgeste. Seine Augen waren jetzt tot. Blicklos, leer. Vom Zug her wurde das Feuer erwidert. Bienen summten im Frühlingsmorgen an ihnen vorbei.
    Fünf Kugeln trafen Puck, und zwei trafen Jericho. Auch hier ist die Reihenfolge unklar. Jericho war, als wäre er von hinten von einem Wagen angefahren worden - nicht schmerzhaft, aber furchtbar hart. Es benahm ihm den Atem und ließ ihn vorwärtstaumeln. Irgendwie lief er weiter, auf stolpernden Beinen, und sah, wie aus Pucks Rücken Klumpen herausflogen - einer, zwei, drei, und dann zerbarst Pucks Kopf in einem roten Spritzen, genau in dem Augenblick, in dem ein zweiter Schlag, dem Jericho nicht standhalten konnte, ihn von der rechten Schulter her in einem Bogen herumwirbelte. Der Himmel war naß von Sprühregen, und sein letzter Gedanke war, so ein Jammer, es war ein Jammer, ein Jammer, daß Regen einen so schönen Morgen verdarb.

VII Klartext
    Klartext: der ursprüngliche, verständliche Text wie er vor der Verschlüsselung lautete und nach erfolgreicher Entschlüsselung oder Kryptoanalyse zum Vorschein kommt.
     
    Ein Lexikon der Kryptographie
    (»Streng geheim«, Bletchley Park, 1943)

1.
    Die Apfelbäume streuten Blütenblätter in den Wind. Sie drifteten über den Friedhof und häuften sich wie Schnee an den Grabsteinen aus Schiefer und

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