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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Wagendach hinweg und außer Sicht. Dann reckte er den Kopf in die entgegengesetzte Richtung und versuchte abzuschätzen, wie weit vorn im Zug Puck saß. Die Gewalt des Windes nahm ihm den Atem. Drei Wagen? Vier? Er zog den Kopf wieder ein und schloß das Fenster, dann durchquerte er das schwankende Abteil und schob die Tür zum Gang auf.
    Er lugte vorsichtig hinaus.
    Die Wagen waren Standardausführung aus der Vorkriegszeit - dunkel und schmutzig. Der Gang, der Verdunkelung wegen nur von schwachen blauen Birnen erhellt, hatte die Farbe einer Giftflasche. Vier Abteile auf der einen Seite, dann ein Knick im Gang und vier weitere auf der anderen. Am vorderen und am hinteren Ende führte eine Verbindungstür zu den angrenzenden Wagen.
    Jericho schlurfte auf den vorderen Teil des Zuges zu. Im Vorbeigehen schaute er in jedes Abteil - hier zwei kartenspielende Matrosen, dort ein junges Paar, das sich schlafend in den Armen lag, dann eine Familie, Mutter und Vater mit Sohn und Tochter, die belegte Brote aßen und Tee aus einer Thermosflasche tranken. Die Mutter hatte einen Säugling an der Brust und wandte sich verlegen ab, als sie sah, daß er hereinschaute.
    Er öffnete die zum nächsten Wagen führende Tür und trat in ein Niemandsland. Der Boden unter seinen Füßen schwankte und schob sich hin und her wie eine Zitterbrücke auf einem Jahrmarkt. Er stolperte und schlug sich das Knie an. Durch einen acht Zentimeter breiten Spalt hindurch konnte er die Kupplungen sehen und darunter den dahinrasenden Grund. Er betrat den nächsten Wagen gerade noch rechtzeitig, um das breite, finstere Gesicht des Schaffners zu sehen, der gerade aus einem Abteil herauskam. Jericho verschwand blitzschnell in der Toilette und schloß sich ein. Einen Augenblick glaubte er, es befände sich noch jemand darin, irgendein heruntergekommener Stromer, doch dann begriff er, daß er das war - das gelbliche Gesicht, die kleinen, fiebrigen Augen, das vom Wind zerzauste Haar, die bläulichschwarzen, seit zwei Tagen nicht abrasierten Bartstoppeln -, das war sein eigenes Spiegelbild. Die Toilette war verstopft und stank. Aus dem Becken quoll eine Rolle nassen, schmutzigen Papiers und ringelte sich um seine Füße wie ein abgerollter Verband.
    »Fahrkarte bitte.« Der Schaffner klopfte laut an. »Schieben Sie bitte Ihre Fahrkarte unter der Tür durch.«
    »Sie ist in meinem Abteil.«
    »Ach, tatsächlich.« Die Klinke ratterte. »Dann kommen Sie mit und zeigen Sie sie mir.«
    »Mir geht es nicht gut.« (Was stimmte.) »kh habe sie für Sie hingelegt.« Er drückte seine brennende Stirn an den kühlen Spiegel. »Lassen Sie mir fünf Minuten Zeit.«
    Der Schaffner grunzte. »Ich komme wieder.« Jericho hörte das Rattern der Räder, als die Verbindungstür aufgeschoben wurde, dann ein Knallen, als sie zufiel. Er wartete ein paar Sekunden, dann entriegelte er die Toilettentür.
    Keine Spur von Puck in diesem Wagen, und im nächsten auch nicht, und als er über die schwankenden Eisenplatten hinweg in den dritten Waggon gesprungen war, spürte er, wie der Zug langsamer wurde. Er ging weiter den Gang entlang.
    Zwei Abteile voller Soldaten, mit verdrossenen Mienen, sechs in jedem, die Gewehre vor den Füßen.
    Dann ein leeres Abteil.
    Dann Puck.
    Er saß mit dem Rücken zur Lokomotive, nach vorn gebeugt - derselbe alte Puck -, gutaussehend, angespannt, mit den Ellenbogen auf den Knien, in ein Gespräch vertieft mit jemandem, der sich außerhalb von Jerichos Blickfeld befand.
    Es ist Claire. Es muß Claire sein. Es kann nur Claire sein. Er hat sie mitgenommen.
    Er drehte dem Abteil den Rücken zu und bewegte sich im Krebsgang vorsichtig daran vorbei, wobei er tat, als sähe er durch das schmutzige Fenster. Sein Auge registrierte eine nahende Stadt - Gestrüpp, Güterwaggons, Lagerschuppen - und dann einen namenlosen Bahnsteig mit einer Uhr, die bei zehn nach zwölf stehengeblieben war, und verblichenen Plakaten mit drallen, fröhlichen Mädchen, die für längst verjährte Ferien in Bournemouth und Clacton-on-Sea warben.
    Der Zug kroch langsam ein paar Meter weiter, dann hielt er abrupt gegenüber dem Bahnhofskiosk an.
    »Northampton!« rief eine Männerstimme. »Bahnhof Northampton!«
    Und wenn es Claire war, was würde er tun?
    Aber sie war es nicht. Er schaute hin und sah einen Mann, einen jungen Mann - schlank, dunkelhaarig, sonnengebräunt, adlergesichtig; offensichtlich ein Ausländer. Er sah ihn nur kurz, weil der Mann bereits aufgestanden war und Pucks Hand

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