Enigma
nicht gefunden werden, noch nicht. Da gab es noch zu viele Fragen, die er stellen mußte, und nur ein Mann konnte ihm die Antworten liefern.
Er ging am Fuß der Treppe vorbei und öffnete die in die Diele führende Doppeltür.
Du bist ihr Liebhaber geworden, stimmt´s, Puck? Nach mir der nächste in der großen Drehtür von Claire Romillys Männern. Und irgendwie - woher? - hast du gewußt, daß in diesem fürchterlichen Wald etwas Grauenhaftes passierte. War das der Grund, daß du dich an sie herangemacht hast? Weil sie Zugang hatte zu Informationen, an die du nicht herankamst? Sie muß sich bereit erklärt haben, dir zu helfen, muß angefangen haben, alles zu kopieren, was irgendwie interessant aussah. (»Sie war in letzter Zeit tatsächlich viel aufmerksamer…«) Und dann kam der Schock, als dir klarwurde, daß - wer? dein Vater? dein Bruder? - an diesem grauenhaften Ort verscharrt worden war. Aber am nächsten Tag konnte sie dir nichts bringen außer den Kryptogrammen, weil die Briten - die Briten, eure zuverlässigen Verbündeten, eure loyalen Beschützer, denen die Polen das Geheimnis der Enigma anvertraut hatten - , weil die Briten im höheren Interesse beschlossen hatten, daß sie einfach nicht mehr wissen wollten.
Puck, Puck, was hast du getan? Was hast du mit ihr gemacht?
In der gotischen Diele stand ein Wachtposten, zwei Kryptoanalytiker saßen auf einer Bank und unterhielten sich leise, eine Helferin mit einem dicken Stapel Akten versuchte, mit dem Ellenbogen die Türklinke zu finden. Jericho machte ihr die Tür auf, sie lächelte dankbar und verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: Was für ein Laden, in dem man noch früh um fünf Uhr an einem Frühlingsmorgen steckt, und Jericho erwiderte das Lächeln und nickte, ein Leidensgenosse. Wahrhaftig, ein schauderhafter Laden…
Die Helferin verschwand in die eine Richtung, und er ging in die entgegengesetzte, auf den Morgenstern und das Haupttor zu. Der Himmel war schwarz, die Telefonzelle fast unsichtbar im Schatten des Arboretums. Sie war leer. Er ging an ihr vorbei, ohne anzuhalten, und setzte seinen Weg zwischen den Bäumen fort. Sir Herbert Leon, der letzte Besitzer von Bletchley Park in Viktorianischer Zeit, war ein großer Baumliebhaber gewesen und hatte sein Grundstück mit dreihundert verschiedenen Baumarten bepflanzt. Vierzig Jahre Selbstaussaat, gefolgt von vier Jahren ohne jegliches Beschneiden, hatten das Arboretum in ein Labyrinth aus Geheimkammern verwandelt, und hier hockte sich Jericho auf die trockene Erde und wartete auf Hester Wallace.
Viertel nach fünf war ihm klar, daß sie nicht kommen würde, was nur bedeuten konnte, daß sie irgendwo festgehalten wurde. Und das würde heißen, daß sie auch nach ihm suchten.
Er mußte den Park verlassen, aber nicht durch das Haupttor, das konnte er nicht riskieren.
Zwanzig nach fünf, als seine Augen sich vollständig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bahnte er sich seinen Weg nordwärts durch das Arboretum, zurück zum Herrenhaus, das Bündel Geheimpapiere schwer in seiner Tasche. Er spürte noch immer die Wirkung des Benzedrins - eine Leichtigkeit in den Muskeln, ein gesteigertes Bewußtsein, insbesondere für Gefahr -, und er sprach ein Dankgebet an Logie, weil er ihn gezwungen hatte, es zu nehmen, denn andernfalls wäre er inzwischen halb tot gewesen.
Er kam vorsichtig zwischen zwei Platanen hervor und trat auf den Rasen an der Seitenfront des Herrenhauses. Vor ihm lag der lange, niedrige Umriß der alten Baracke 4 und dahinter die Masse des großen Hauses. Er ging außen herum und gelangte, an ein paar Mülltonnen vorbei, zur Rückseite und in den Hof. Hier standen die Stallungen, in denen er 1939 seine Arbeit begonnen hatte, und dahinter die Häuschen, in denen Dilly Knox die ersten Vorstöße in die Geheimnisse der Enigma unternommen hatte. Mit einiger Mühe konnte er die funkelnden Zylinder und Auspuffrohre von einem halben Dutzend im Halbkreis aufgestellter Motorräder erkennen. Eine Tür ging auf, und in dem kurz herausfallenden Licht sah er einen Kurier - ausgepolstert, mit Helm und Handschuhen wie ein mittelalterlicher Ritter. Jericho drückte sich an die Mauer und wartete, während der Motorradfahrer seinen Sitz zurechtrückte, die Maschine antrat und Gas gab. Ihr Rücklicht wurde kleiner und verschwand allmählich.
Er dachte kurz daran, den gleichen Ausgang zu benutzen, aber sein Verstand sagte ihm, wenn das Haupttor bewacht wurde, dann sicherlich auch dieses Tor. Er
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