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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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freigab, nachdem er sie mit beiden Händen umfaßt hatte. Der junge Mann lächelte (er hatte sehr weiße Zähne) und nickte - irgendein Handel war abgeschlossen worden -, dann stieg er aus dem Abteil und bewegte sich schnell den Bahnsteig entlang, mit scharfen Schultern die Menge durchschneidend. Puck sah ihm einen Moment lang nach, dann zog er die Tür zu und lehnte sich wieder auf seinem Sitz zurück, außer Sichtweite.
    Wie immer sein Fluchtplan beschaffen sein mochte, Claire Romilly gehörte offensichtlich nicht dazu.
    Jericho wandte den Blick ab.
    Plötzlich begriff er, was passiert sein mußte. Puck war in der Samstagnacht zu Claires Haus geradelt, um die Kryptogramme zu holen - und hatte statt dessen Jericho vorgefunden. Später war er zurückgekehrt und hatte festgestellt, daß die Kryptogramme verschwunden waren. Natürlich hatte er vermutet, daß Jericho sie an sich genommen hatte und im Begriff war, das zu tun, was jeder loyale Staatsdiener getan hätte: schnurstracks zu den Behörden zu laufen und Claire anzuzeigen.
    Er warf wieder einen Blick in das Abteil. Puck hatte sich offenbar eine Zigarette angezündet. Rauchwölkchen verwandelten sich in breite stahlblaue Schwaden.
    Aber das konntest du nicht zulassen, nicht wahr, weil sie das einzige Bindeglied war zwischen dir und den gestohlenen Papieren? Und du brauchtest Zeit, um mit deinem ausländischen Freund diese Flucht zu planen…
    Also was hast du mit ihr gemacht?
    Ein Pfiff. Ein heftiger Ausstoß von Dampf. Der Bahnsteig erbebte und begann davonzugleiten. Jericho nahm es kaum zur Kenntnis. Nichts drang in sein Bewußtsein außer dem unausweichlichen Ergebnis seiner Überlegungen.
    Was dann passierte, ging alles sehr schnell, und wenn es nie eine einheitliche, einleuchtende Erklärung für die Ereignisse gegeben hat, dann lag das an dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: an der durch Verletzung bewirkten Amnesie, dem Tod von zwei der Beteiligten, der Vernebelungsmaschinerie des Geheimhaltungsgesetzes.
    Aber so ungefähr spielte es sich ab.
    Etwa zwei Meilen nördlich des Bahnhofs Northampton, dicht bei dem Dorf Kingsthorpe, verband eine Weiche die Hauptstrecke zur Westküste mit der Nebenstrecke nach Rugby. Mit nur fünf Minuten Vorankündigung wurde der Zug von der planmäßigen Route auf die Nebenstrecke Richtung Westen abgeleitet, und ganz kurze Zeit später warnte ein rotes Signal den Lokführer vor einem Hindernis auf den Gleisen.
    Der Zug hatte deshalb seine Fahrt bereits verlangsamt, obwohl Jericho sich dessen nicht bewußt war, als er die Tür zu Pucks Abteil aufschob. Sie bewegte sich leicht, ein Fingerdruck genügte. Die Rauchschwaden gerieten in Bewegung und zogen ab.
    Puck drückte gerade die Zigarette aus (später wurde festgestellt, daß in seinem Aschenbecher fünf Stummel lagen) und schob das Fenster herunter - vermutlich, weil er das Langsamerwerden des Zuges bemerkt hatte und vielleicht auch die Umleitung und weil er argwöhnisch geworden war und sehen wollte, was da vor sich ging. Er hörte die Tür hinter sich und drehte sich um, und in diesem Moment verwandelte sich sein Gesicht in einen Totenschädel. Das Fleisch war abgezehrt, die Haut straff gespannt, es wirkte maskenhaft. Er war bereits ein toter Mann, und er wußte es. Nur seine Augen waren noch lebendig und funkelten unter seiner hohen Stirn. Sie flackerten von Jericho zum Gang, zum Fenster und wieder zurück zu Jericho. Man konnte sehen, daß hinter ihnen fieberhaftes Nachdenken herrschte, ein wahnsinniger und hoffnungsloser Versuch, Auswege, Winkel, Flugbahnen zu berechnen.
    Jericho sagte: »Was haben Sie mit ihr gemacht?«
    Puck hatte den Smith and Wesson in der Hand. Entsichert. Er hob ihn. Seine Augen flackerten wie zuvor: Jericho, Gang, Fenster, dann wieder Jericho und schließlich erneut zum Fenster. Er legte den Kopf in den Nacken, die Waffe auf Armeslänge vor sich haltend, und versuchte auf die Gleise zu sehen.
    »Warum halten wir?«
    »Was haben Sie mit ihr gemacht?«
    Puck winkte ihn mit der Waffe zurück, aber Jericho war es völlig gleich, was nun passierte. Er trat einen Schritt näher.
    Puck sagte etwas wie »Bitte, zwingen Sie mich nicht«, und dann ging wie in einer Farce die Tür auf, und der Schaffner kam herein, weil er Jerichos Fahrkarte sehen wollte.
    Einen langen Augenblick standen sie einfach da, ein seltsames Trio - der Schaffner mit seinem breiten, nichtssagenden Gesicht, das sich vor Verblüffung in Falten legte; der Verräter mit seinem

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