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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Vergnügen. »Ein Jude hat es erbauen lassen. Ein Börsenmakler. Freund von Lloyd George.« Seine Stimme hob sich bei jeder Aussage und deutete damit eine aufsteigende Skala gesellschaftlichen Horrors an. Er bremste abrupt und viel zu heftig, wobei der Kies aufspritzte und er beinahe einen Installateur überfahren hätte, der gerade von einer großen Rolle ein Kabel abwickelte.
    Drinnen, in einem getäfelten Wohnzimmer mit Blick auf den See, standen sechzehn Männer herum und tranken Kaffee. Jericho war überrascht, wie viele von ihnen er kannte. Sie warfen sich Blicke zu, verlegen und belustigt. Aha, sagten ihre Gesichter, Sie hat man also auch geholt… Atwood ging völlig gelassen zwischen ihnen hin und her, schüttelte Hände und machte bissige Bemerkungen, über die zu lächeln sich alle verpflichtet fühlten.
    »Es ist nicht der Kampf gegen die Deutschen, der mir zuwider ist. Es ist die Tatsache, daß wir wegen dieser verdammten Polen Krieg haben.« Er wendete sich an einen gutaussehenden, ein wenig finster dreinschauenden jungen Mann mit hoher, breiter Stirn und dichtem Haar. »Und wie ist Ihr Name?«
    »Pukowski«, sagte der junge Mann. »Ich bin ein verdammter Pole.«
    Turing warf Jericho einen Blick zu und zwinkerte.
    Am Nachmittag wurden die Kryptoanalytiker in Teams aufgeteilt. Turing wurde damit beauftragt, die »Bombe« umzukonstruieren, die riesige Maschine, die der geniale Marian Rejewski von der Chiffrierabteilung des polnischen Geheimdienstes 1938 zur Entschlüsselung von Enigma gebaut hatte. Jericho wurde in das Stallgebäude hinter dem Herrenhaus geschickt, wo er verschlüsselte deutsche Funksprüche dechiffrieren sollte.
    Wie eigenartig sie gewesen waren, diese ersten neun Monate des Krieges, wie unwirklich, wie - es war irgendwie absurd, das heute zu sagen -, wie friedlich. Sie kamen jeden Tag mit dem Fahrrad aus ihren Unterkünften in verschiedenen Gasthäusern auf dem Lande und Pensionen in der Stadt nach Bletchley Park. Sie aßen gemeinsam im Herrenhaus. An den Abenden spielten sie Schach und ergingen sich auf dem Gelände, bevor sie zurückradelten zu ihren Betten. Ungefähr alle zehn Tage kam ein neuer Mitarbeiter dazu - ein Altphilologe, ein Mathematiker, ein Museumskurator, ein Antiquar. Jeder von ihnen war angeheuert worden, weil er ein Freund von jemandem war, der bereits in Bletchley arbeitete.
    Ein trockener und dunstiger Herbst in Gold-  und Brauntönen, mit Krähen, die wie Kohlebrocken in der Luft herumwirbelten, ging über in einen Winter wie auf einer Weihnachtskarte. Der See fror zu. Die Ulmen bogen sich unter der Last des Schnees. Vor dem Stallfenster pickte ein Rotkehlchen Brotkrumen auf.
    Jerichos Arbeit war angenehm akademisch. Drei-  oder viermal am Tag ratterte ein Motorradkurier über den Hof hinter dem Herrenhaus und brachte eine Tasche voll aufgefangener deutscher Kryptogramme. Jericho sortierte sie nach Frequenz und Rufzeichen und trug sie mit Farbstiften in Tabellen ein - rot für die Luftwaffe, grün für das Heer -, bis sich schließlich aus dem unverständlichen Wirrwarr Formen herausbildeten. Stationen, die innerhalb eines Funknetzes frei miteinander sprechen durften, ergaben ein Muster aus sich überschneidenden Linien innerhalb eines Kreises. Netze, in denen nur Zwei-Wege-Funkverkehr zwischen einem Hauptquartier und seinen Außenstationen herrschte, ähnelten Sternen. Kreis- Netze und Stern-Netze.
    Diese Idylle dauerte acht Monate, bis zur deutschen Offensive im Mai 1940. Bis dahin hatten die Kryptoanalytiker kaum genügend Material gehabt, um Enigma ernsthaft zu attackieren. Aber als die Wehrmacht durch Holland, Belgien und Frankreich fegte, wurde aus dem Plätschern des Funkverkehrs ein Getöse. Die Menge des Materials stieg von drei oder vier Kuriertaschen voll auf dreißig oder vierzig; auf einhundert; auf zweihundert.
    Es war an einem Spätvormittag, ungefähr eine Woche, nachdem dies angefangen hatte, als Jericho eine Berührung an seinem Ellenbogen spürte. Er drehte sich um, und es war Turing, der ihn anlächelte.
    »Da ist jemand, mit dem ich Sie bekannt machen möchte, Tom.«
    »Ehrlich gesagt, Alan, ich habe im Moment sehr viel zu tun.«
    »Sie heißt Agnes. Ich finde wirklich, Sie sollten sie begrüßen.«
    Jericho hätte fast widersprochen - ein Jahr später hätte er es getan -, aber damals hatte er noch viel zuviel Respekt vor Turing, als daß er sich ihm widersetzt hätte. Er griff sich sein Jackett von der Stuhllehne, das er im Gehen anzog,

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