Enigma
sie wäre kaputt. Er fuhr mit übertriebener Vorsicht, mit dem Gesicht ganz nahe an der Windschutzscheibe, während sein rechter Fuß behutsam zwischen Bremse und Gas wechselte. Gelegentlich schien er kaum schneller als Schrittempo zu fahren, so daß sie, wie Jericho schätzte, mit einigem Glück gegen Mitternacht ihr Ziel erreichen würden, obwohl die Fahrt nach Bletchley bei Tageslicht kaum länger als anderthalb Stunden dauerte.
»Ich an Ihrer Stelle würde zusehen, daß ich ein bißchen Schlaf bekomme, alter Junge«, hatte Logie gesagt und aus seinem Mantel ein Kissen gemacht. »Es liegt eine lange Nacht vor uns.«
Aber Jericho konnte nicht schlafen. Er schob die Hände tief in die Taschen und starrte vergeblich in die Nacht.
Bletchley, dachte er angewidert. Schon den Namen aussprechen zu müssen, erzeugte ihm ein unangenehmes Gefühl im Mund. Weshalb hatten sie sich unter allen Städten Englands ausgerechnet für Bletchley entschieden? Bis vor vier Jahren hatte er noch nie etwas von diesem Nest gehört. Und wäre da nicht im Frühjahr 1939 dieses Glas Sherry in Atwoods Wohnung gewesen, hätte er vermutlich auch den Rest seines Lebens in glücklicher Unwissenheit verbracht.
Wie seltsam das war, wie absurd: jemandes Schicksal nachzuspüren und festzustellen, daß es durch ein paar Tropfen blassen Manzanillas eine völlig andere Wendung genommen hatte…
Kurze Zeit nach dieser ersten Begegnung hatte Atwood eine Zusammenkunft mit ein paar »Freunden« in London arrangiert. Danach stieg Jericho vier Monate lang jeden Freitag in den Frühzug und begab sich in ein staubiges Bürohaus in der Nähe der U-Bahnstation St. James. Hier, in einem schäbigen Raum mit einer Schultafel und einem Stehpult, wurde er in die Geheimnisse der Kryptographie eingeweiht. Und es war genau so, wie Turing vorhergesagt hatte: Er war fasziniert.
Vor allem ihre Geschichte faszinierte ihn, angefangen mit den alten Runensystemen und den irischen Codes im Book of Ballymote mit ihren ausgefallenen Bezeichnungen (»Schlange durch das Gras«, »Qualen eines Dichterherzens«), über die Codes von Papst Sylvester II. und Hildegard von Bingen, über Albertis Erfindung der Chiffrierscheibe - der ersten polyalphabetischen Chiffre - und Kardinal Richelieus Gitter bis hin zu den maschinell erzeugten Geheimnissen der deutschen Enigma, die man resigniert für unentschlüsselbar hielt.
Und er liebte das geheime Vokabular der Kryptoanalytiker mit ihren Homophonen und Polyphonen, ihren Digraphen und Bigraphen und Nullen. Er beschäftigte sich mit Frequenzanalysen. Er wurde in die komplizierten Geheimnisse von Superverschlüsselung, von Placode und Enicode eingeweiht. Anfang August 1939 wurde ihm offiziell eine Stellung an der Government Code and Cipher School mit einem Jahresgehalt von 300 Pfund angeboten; gleichzeitig wurde er aufgefordert, nach Cambridge zurückzukehren und die weitere Entwicklung abzuwarten. Am 1. September hörte er nach dem Aufwachen im Radio, daß die Deutschen in Polen einmarschiert waren. Am 3. September, dem Tag, an dem Großbritannien den Krieg erklärte, traf in der Pförtnerloge ein Telegramm ein, das ihn anwies, sich am nächsten Morgen an einem Ort namens Bletchley Park einzufinden.
Der Anweisung gemäß verließ er King´s College, sobald der Tag angebrochen war, auf dem schmalen Beifahrersitz von Atwoods altem Sportwagen. Bletchley war, wie sich herausstellte, ein kleiner Eisenbahnknotenpunkt aus der Viktorianischen Zeit, ungefähr fünfzig Meilen westlich von Cambridge. Atwood, der gern ein wenig angab, bestand darauf, mit offenem Verdeck zu fahren, und als sie durch die engen Straßen ratterten, hatte Jericho den Eindruck von Rauch und Ruß, von kleinen, häßlichen Reihenhäusern und hohen, schwarzen Schornsteinen von Ziegelbrennereien. Sie fuhren unter einer Eisenbahnbrücke hindurch und dann einen Feldweg entlang und wurden von bewaffneten Posten durch ein hohes, zweiflügeliges Tor hindurchgewinkt. Rechts von ihnen fiel eine Rasenfläche zu einem von hohen Bäumen gesäumten See ab. Zu ihrer Linken ragte ein Gebäude auf - eine niedrige, langgestreckte Monstrosität aus spätviktorianischer Zeit, erbaut aus roten Ziegeln und sandfarbenem Naturstein, die Jericho an das Veteranenhospital erinnerte, in dem sein Vater gestorben war. Er sah sich um und erwartete beinahe, Frauen in Schwesterntracht zu sehen, die gebrochene Männer in Rollstühlen herumschoben.
»Ist es nicht einfach grauenhaft«, quiekte Atwood vor
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