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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Himmels willen, Puck…« Jetzt war auch Jericho verärgert. »Tun Sie mir einfach einen Gefallen, wenn es Ihnen so lieber ist.«
    Puck funkelte ihn einen Moment lang an, dann verflogen die Wolken ebenso rasch, wie sie aufgezogen waren. »Natürlich.« Er streckte die Hände in die Höhe und deutete damit seine Kapitulation an. »Sie müssen alles sehen. Entschuldigen Sie. Ich bin müde. Wir sind alle müde.«
    Als Jericho fünf Minuten später mit einem Aktenordner voller Shark-Kryptogramme in den Ballsaal zurückkehrte, stellte er fest, daß sein früherer Platz geräumt worden war. Jemand hatte außerdem einen Stapel Notizpapier und drei frisch gespitzte Bleistifte hingelegt. Er sah sich um, aber niemand schien ihm Aufmerksamkeit zu widmen.
    Er legte die aufgefangenen Funksprüche auf dem Tisch aus. Er lockerte seinen Schal, faßte prüfend an den Heizkörper - der wie immer lauwarm war -, hauchte in seine Hände, um sie anzuwärmen, und setzte sich.
    Er war wieder da.

3.
    Wann immer Jericho von jemandem gefragt wurde - von einer Freundin seiner Mutter oder einem neugierigen Kollegen ohne jedes Interesse an Naturwissenschaft -, weshalb er Mathematiker geworden sei, schüttelte er den Kopf, lächelte und behauptete, er hätte keine Ahnung. Wenn sie nicht lockerließen, dann verwies er sie mit einiger Verlegenheit auf die Definition, die G. H. Hardy in seiner berühmten Apology geliefert hatte: »Ein Mathematiker ist, wie ein Maler oder ein Dichter, ein Verfertiger von Mustern.« Wenn sie auch das nicht zufriedenstellte, versuchte er eine Erklärung, indem er das simpelste Beispiel nannte, das ihm einfiel: Pi = 3,14 bezeichnet das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser. Errechnen Sie Pi bis auf die tausendste Stelle hinter dem Komma oder noch weiter, und sie werden in dieser unendlichen Zahlenfolge keinerlei Muster entdecken. Sie erscheint zufällig, chaotisch, häßlich. Aber Leibniz und Gregory können die gleiche Zahl nehmen und ihr ein Muster von kristalliner Eleganz entlocken:

    und so weiter, ad infinitum. Ein derartiges Muster hatte keinerlei praktischen Nutzen, es war lediglich schön - so grandios, nach Jerichos Ansicht, wie eine Tonfolge in einer Fuge von Bach. Und wenn sein Quälgeist dann immer noch nicht begriffen hatte, worauf er hinauswollte, dann tat es ihm leid, das war Zeitverschwendung.
    Unter diesem Aspekt war nach Jerichos Ansicht auch die Enigma-Maschine schön - ein Meisterwerk menschlichen Erfindungsgeistes, das sowohl Chaos als auch einen winzigen Streifen Sinn hervorbrachte. Zu Beginn seiner Zeit in Bletchley hatte er tatsächlich Phantasien nachgehangen, wie er eines Tages, wenn der Krieg vorüber wäre, ihren deutschen Erfinder, Arthur Scherbius, ausfindig machen und ihn zu einem Glas Bier einladen würde. Aber dann erfuhr er, daß Scherbius bereits 1929 gestorben war, auf lächerlich unlogische Art von einem durchgehenden Pferd getötet, und den Erfolg seines Patents nicht mehr erlebt hatte.
    Wenn er es getan hätte, wäre er ein reicher Mann geworden. In Bletchley schätzte man, daß die Deutschen bis Ende 1942 mindestens hunderttausend Enigmas gebaut hatten. Jede Heereseinheit hatte eine, jeder Luftwaffenstützpunkt, jedes Kriegsschiff, jedes U-Boot, jeder Hafen, jeder Eisenbahnknotenpunkt, jede SS-Brigade und jedes Gestapo-Hauptquartier. Niemals zuvor hatte eine Nation einen so großen Teil ihrer geheimen Kommunikation einem einzigen Gerät anvertraut.
    Im Herrenhaus von Bletchley verfügten die Kryptoanalytiker über einen ganzen Raum voller erbeuteter Enigmas, und Jericho hatte stundenlang mit ihnen herumgespielt. Sie waren klein (kaum mehr als dreißig Zentimeter im Quadrat und fünfzehn Zentimeter hoch), tragbar (sie wogen lediglich sechsundzwanzig Pfund) und leicht zu bedienen. Man stellte die Maschine ein, tippte eine Botschaft ein, und dann kam, Buchstabe für Buchstabe, auf einer Leuchtanzeige der chiffrierte Text zum Vorschein. Wer immer die chiffrierte Nachricht erhielt, brauchte nur seine Maschine auf genau die gleiche Weise einzustellen und das Kryptogramm einzutippen, woraufhin ihm die Lämpchen den Klartext lieferten.
    Das Geniale daran bestand in der ungeheuer großen Zahl von Permutationen, die die Enigma erzeugen konnte. In einer Standard-Enigma floß Strom von einer Tastatur über ein Netz aus drei verkabelten Walzen (von denen sich zumindest eine jedesmal, wenn eine Taste angeschlagen wurde, eine Kerbe weiterdrehte) zu sechsundzwanzig

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