Enigma
ließ sich auf einem der Kissen nieder; gleichzeitig zog sie Jericho neben sich herunter. Sie senkte den Kopf und faltete die Hände, und er tat dasselbe. Schritte näherten sich auf dem Gang hinter ihnen, hielten an, gingen dann auf Zehenspitzen weiter. Jericho schaute verstohlen nach links, so daß er sehen konnte, wie der ältliche Geistliche sich bückte, um sein Gewand aufzuheben.
»Tut mir leid, wenn ich Sie in Ihrem Gebet gestört habe«, flüsterte der Vikar. Er bedachte Hester mit einem kleinen Winken und einem Kopfnicken. »Hallo. Tut mir leid. Ich überlasse Sie nun wieder Gott.«
Sie hörten, wie seine unsicheren Schritte im Hintergrund der Kirche verklangen. Die Tür wurde zugezogen. Der Riegel fiel krachend herunter. Jericho setzte sich wieder auf die Bank, legte eine Hand auf sein Herz und war sicher, daß er dessen Schlagen durch vier Lagen Kleidung hindurch fühlen konnte. Er sah Hester an. »Ich überlasse Sie Gott«, sagte er, und sie lächelte. Die Veränderung, die das in ihr bewirkt hatte, war bemerkenswert. Ihre Augen funkelten, die Härte in ihrem Gesicht war fast verschwunden - und zum erstenmal konnte er sich einen Moment lang vorstellen, weshalb sie und Claire Freundinnen gewesen waren.
Jericho betrachtete das Buntglasfenster über dem Altar und legte die Fingerspitzen zusammen. »Also, was haben wir von alledem zu halten? Daß Claire den gesamten Inhalt der Akte gestohlen hat? Nein«, widersprach er sich sofort, »nein, das kann nicht stimmen, nicht wahr, weil das, was sie in ihrem Zimmer hatte, die ursprünglichen Kryptogramme waren, nicht die Entschlüsselungen…«
»Genau«, sagte Hester. »In der leeren Akte lag ein mit der Maschine geschriebener Zettel, den die Frau mir gezeigt hat - darauf stand, daß die darin enthaltenen Seriennummern zur Neueinordnung entnommen wurden und daß alle Anfragen ans Büro des Generaldirektors gerichtet werden sollten.«
»Des Generaldirektors? Sind Sie sicher?«
»Ich kann lesen, Mister Jericho.«
»Welches Datum stand auf dem Zettel?«
»4. März.«
Jericho massierte seine Stirn. Es war das Seltsamste, das er je gehört hatte. »Was ist nach der Registratur passiert?«
»Ich kehrte in die Baracke zurück und schrieb meine Nachricht an Sie. Das Abliefern kostete mich den Rest meiner Essenspause. Danach mußte ich zusehen, daß ich noch einmal unbemerkt in die Registratur kam. Wir führen eine Art tägliches Logbuch, anhand der Formulare, die wir ausfüllen. Eine Akte für jeden Tag.« Wieder wühlte sie in ihrer Handtasche und holte eine kleine Karteikarte mit einer Liste von Daten und Nummern heraus. »Ich wußte nicht recht, wo ich anfangen sollte, also bin ich einfach bis Anfang des Jahres zurückgegangen und habe mich dann durchgearbeitet. Nichts bis zum 6. Februar. Insgesamt nur elf Funksprüche, von denen vier am letzten Tag kamen.«
»Welcher war das?«
»Der 4. März. Der gleiche Tag, an dem die Akte aus der Registratur entfernt wurde. Was können Sie damit anfangen?«
»Nichts. Alles. Ich versuche immer noch, mir vorzustellen, wie in aller Welt eine relativ belanglose deutsche Nachrichtenabteilung etwas von sich geben kann, das zum Entfernen einer ganzen Akte führt.«
»Aber eines interessiert mich, wer ist der Generaldirektor?«
»Der Chef des britischen Geheimdienstes. ›C‹. Seinen wahren Namen kenne ich nicht.« Er erinnerte sich an den Mann, der ihm kurz vor Weihnachten einen Scheck überreicht hatte. Ein rötliches Gesicht und rustikaler Tweed. Er hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Farmer als mit einem Meisterspion. »Ihre Notizen«, sagte Jericho und streckte die Hand aus.
»Darf ich?«
Widerstrebend händigte sie ihm die Liste der aufgefangenen Funksprüche aus. Er hielt sie in das schwache Licht. Sie ergaben in der Tat ein bizarres Muster. Nach dem ersten Funkspruch - am 6. Februar kurz nach zwölf Uhr aufgefangen - hatte zwei Tage Stille geherrscht. Dann war am 9. um 14.27 Uhr eine weitere Meldung gekommen. Danach zehn Tage lang gar nichts. Dann ein Funkspruch am 20. um 18.07 Uhr, wieder eine lange Pause, gefolgt von hektischer Aktivität: zwei Meldungen am 2. März (16.39 und 19.01), zwei am 3. (11.18 und 17.27) und schließlich in der Nacht des 4. vier Funksprüche in rascher Folge. Das waren die Kryptogramme, die er aus Claires Zimmer mitgenommen hatte. Die Funksprüche hatten nur zwei Tage vor seinem letzten Gespräch mit Claire bei der überschwemmten Lehmgrube begonnen. Und sie hatten einen Monat später
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