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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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»der Leiter des Kontrollraums; ein Bär von sehr geringem Verstand«) am Telefon, mit dem Rücken zur Tür, und schleimt sich bei irgendeinem Vorgesetzten ein: »Nein, nein, das geht völlig in Ordnung, Donald, ist mir ein Vergnügen, Ihnen zu Diensten sein zu können…«, was Hester nur recht sein kann, weil es bedeutet, daß er überhaupt nicht bemerkt, wie sie ihren Mantel nimmt und verschwindet. Sie schaltet ihre Verdunkelungstaschenlampe ein und geht hinaus in die Nacht.
    Eine Bö fegt durch die Gasse zwischen den Baracken und peitscht ihre Wangen. Am hinteren Ende von Baracke 8 gabelt sich der Weg: Rechts geht es zum Haupttor und zur Hektik der Kantine, links in die Dunkelheit des Seeufers.
    Sie biegt links ab.
    Der Mond ist von einem seidigen Schleier verhüllt, aber das bleiche Licht reicht trotzdem gerade aus, daß sie den Weg erkennen kann. Hinter dem Grenzzaun liegt im Osten ein Wäldchen, das sie nicht sehen kann, aber das Geräusch des Windes in den unsichtbaren Bäumen scheint sie magisch anzuziehen. Am A-Block und am B-Block vorbei, zweihundertfünfzig Meter, und da ist es, direkt vor ihr, schwach umrissen: das große, massige, bunkerähnliche Gebäude, gerade erst fertiggestellt, in dem jetzt die Zentralregistratur von Bletchley untergebracht ist. Als sie näher herankommt, fällt das Licht ihrer Taschenlampe auf mit Stahlläden verschlossene Fenster, dann auf die schwere Tür.
    Du sollst nicht stehlen, sagt sie sich, während sie nach der Klinke greift.
    Nein, nein. Natürlich nicht.
    Du wirst nicht stehlen, du wirst nur schnell einen Blick darauf werfen und dann wieder verschwinden.
    Und steht nicht geschrieben: »Das Geheimnis ist des Herrn, unseres Gottes« (5. Mose 29.29)?
    Das grellweiße Neonlicht ist ein Schock nach der Düsterkeit der Baracke, und ebenso die Stille, in der nur das ferne Klappern der Lochkartenmaschinen zu hören ist. Die Arbeiter sind noch nicht fertig. Pinsel und alle möglichen Werkzeuge sind an einer Seite der Eingangshalle gestapelt, in der es durchdringend nach Bauarbeiten riecht - nach frischem Beton, nasser Farbe, Hobelspänen. Die Diensthabende, ein weiblicher Unteroffizier in der Uniform der Women´s Air Force, beugt sich so freundlich über den Tresen, als bediente sie in einem Laden.
    »Kalte Nacht?«
    »Ziemlich.« Hester schafft es, zu lächeln und zu nicken.
    »Ich muß ein paar Seriennummern überprüfen.«
    »Nachschlagen oder ausleihen?«
    »Nachschlagen.«
    »Abteilung?«
    »Baracke 6, Kontrolle.«
    »Ausweis?«
    Die Frau nimmt die Liste mit den Nummern und verschwindet in einem Hinterzimmer. Durch die offene Tür sieht Hester Metallregale und endlose Reihen von Aktenkartons. Ein Mann geht an der Tür vorbei und nimmt einen der Kartons heraus. Er starrt sie an. Sie wendet den Blick ab. An der weißgetünchten Wand ein Plakat, eine Karikatur von Bateman, mit einer niesenden Frau, neben ihr einer von diesen albernen Whitehall-Typen: DAS GESUNDHEITSMINISTERIUM SAGT: Husten und Schnupfen verbreiten Krankheiten.
    Verhindern Sie die Verbreitung von Bazillen, indem Sie Ihr Taschentuch benutzen.
    Helfen Sie mit, die Nation kampfbereit zu halten.
    Es gibt nichts, worauf sie sich setzen könnte. Hinter dem Tresen ist eine große Uhr mit dem Aufdruck Royal Air Force - so groß, daß Hester sehen kann, wie sich der Minutenzeiger bewegt. Vier Minuten vergehen. Fünf Minuten. In der Registratur ist es unangenehm warm. Sie spürt, wie sie anfängt zu schwitzen. Ihr ist beinahe übel von dem Farbgeruch. Sieben Minuten. Acht Minuten. Sie würde gern die Flucht ergreifen, aber die Wachhabende hat ihren Ausweis mitgenommen. Großer Gott, wie konnte sie nur dermaßen blöd sein? Was ist, wenn die Frau in Baracke 6 anruft und sich vergewissert? Jeden Augenblick kann Miles in die Registratur gestürmt kommen: »Was zum Teufel tun Sie hier, Frau?« Neun Minuten. Zehn Minuten. Versuch, an etwas anderes zu denken. Husten und Schnupfen verbreiten Krankheiten…
    Sie ist so durcheinander, daß sie nicht einmal hört, wie die Frau zurückkommt.
    »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt…«
    Die Frau, das arme Ding, ist regelrecht erschüttert.
    Weshalb? fragt Jericho.
    Die Akte, sagt Hester. Die Akte, um die ich sie gebeten hatte. Sie war leer.
    Hinter ihnen ertönte ein lautes metallisches Getöse, gefolgt von einer Reihe von kurzen Kratzgeräuschen. Die Kirchentür wurde aufgestoßen. Hester schloß die Augen, ging in die Knie und

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