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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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geendet, während er noch in Cambridge war, weniger als eine Woche vor dem Shark-Blackout.
    In alldem war nicht die geringste Systematik zu erkennen.
    Er sagte: »In welchem Enigma-Schlüssel sind sie gesendet worden? Sie waren doch mit Enigma verschlüsselt?«
    »In der Registratur waren sie unter Vulture eingeordnet.«
    »Vulture?«
    »Der Standardschlüssel der Wehrmacht für die Ostfront.«
    »Regelmäßig geknackt?«
    »Jeden Tag. Soweit ich weiß.«
    »Und die Funksprüche - wie wurden sie gesendet? Einfach über das übliche Militärnetz verbreitet?«
    »Das weiß ich nicht, aber höchstwahrscheinlich nicht.«
    »Weshalb?«
    »Dafür sind sie zu spärlich. Zu unregelmäßig. Und die Frequenz ist mir unbekannt. Ich habe den Eindruck, daß es etwas Spezielles gewesen sein muß - sozusagen eine private Verbindung. Nur die beiden Stationen. Eine Mutter und ein einsamer Stern. Aber um sicher zu sein, brauchten wir die entsprechenden Blätter aus dem Logbuch.«
    »Und wo sind die?«
    »Sie hätten in der Registratur sein müssen. Aber als ich nachsah, stellte ich fest, daß sie gleichfalls herausgenommen worden waren.«
    »Donnerwetter«, murmelte Jericho, »die waren aber gründlich.«
    »Viel mehr hätten sie nicht tun können, außer noch die Seiten aus dem Index im Kontrollraum herauszureißen. Und Sie glauben, Claire benimmt sich verdächtig? Und jetzt möchte ich das bitte zurückhaben.«
    Sie nahm die Aufstellung der Funksprüche und bückte sich, um sie wieder in ihrer Handtasche zu verstauen.
    Jericho lehnte sich an die Rückenlehne der Bank und starrte hinauf zum Deckengewölbe. Etwas Spezielles? dachte er. Es mußte etwas Spezielles gewesen sein, etwas ganz Spezielles, wenn sich der Generaldirektor höchstpersönlich die ganze Akte unter den Nagel riß und obendrein die Logbuchblätter. Es ergab einfach keinen Sinn. Wenn er nur nicht so furchtbar müde wäre. Was er brauchte, waren ein oder zwei Tage bei fest geschlossener Tür im College, ein ordentlicher Stapel frisches Notizpapier und ein Packen angespitzter Bleistifte…
    Er senkte langsam den Blick und ließ ihn dabei über den Rest der Kirche schweifen - die Heiligen in den Fenstern, die Marmorengel, die Gedenksteine für die respektablen Toten aus Bletchley Park, die Seile aus dem Glockenturm, die zusammengeschlungen waren und aussahen wie eine große Spinne. Er schloß die Augen.
    Claire, Claire, was hast du getan? Hast du bei deiner »fürchterlich langweiligen« Arbeit etwas gesehen, was du nicht sehen solltest? Hast du ein paar Blätter aus dem vertraulichen Abfall herausgeholt, als gerade niemand hinschaute, und sie klammheimlich eingesteckt? Und wenn du das getan hast - warum? Und wissen sie, daß du es getan hast? Ist Wigram deshalb hinter dir her? Hast du zuviel mitbekommen?
    Er sah sie in der Dunkelheit am Fuße seines Bettes knien, hörte seine eigene schlaftrunkene Stimme: »Was in aller Welt tust du da?« Und ihre aufrichtige Antwort: »Ich sehe mir nur deine Sachen an…«
    Du bist immer auf der Suche nach etwas gewesen, nicht wahr? Und als ich es nicht liefern konnte, bist du zu einem anderen gegangen. »Ich treffe mich ständig mit jemand anderem«, hast du gesagt. Die letzten Worte, die du an mich gerichtet hast, erinnerst du dich? Also, was ist es, dieses Ding, das du unbedingt haben willst?
    So viele Fragen. Ihm wurde bewußt, wie kalt ihm war. Er zog seinen Mantel enger um sich, vergrub sein Kinn in seinem Schal, schob die Hände tief in die Taschen. Er versuchte, sich die vier Kryptogramme wieder ins Gedächtnis zu rufen - LCNNR KDEMS LWAZA -, aber die Buchstaben waren verschwommen. Das hatte er schon früher festgestellt. Es war unmöglich, Seiten mit unverständlichem Zeug in Gedanken zu fotografieren. Sie mußten irgendeine Bedeutung haben, irgendeine Struktur - nur dann konnte man sie im Gedächtnis behalten.
    Eine Mutter und ein einsamer Stern…
    Die dicken Mauern bargen eine Stille, die so alt zu sein schien wie die Kirche selbst - eine bedrückende Stille, nur gelegentlich unterbrochen von einem in den Sparren nistenden Vogel. Mehrere Minuten lang schwiegen beide. Während Jericho auf der harten Bank saß, hatte er das Gefühl, daß sich seine Knochen in Eis verwandelt hatten, und diese Taubheit, verbunden mit der Stille, den Reliquienschreinen überall und dem widerlichen Weihrauchgeruch, löste morbide Gedanken in ihm aus. Zum zweitenmal an nur zwei Tagen erinnerte er sich an das Begräbnis seines Vaters - das hagere

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