Enigma
verbrannt.«
Sie saßen in der zweiten Bankreihe, dicht nebeneinander, die Gesichter nach vorn gerichtet. Wäre jemand in die Kirche gekommen, hätte er gedacht, es wäre eine Beichte - nur, daß sie den Geistlichen spielte und er den Sünder.
»Glauben Sie, daß sie eine Spionin ist?«
»Ich weiß es nicht. Ihr Verhalten ist verdächtig, um es gelinde auszudrücken. Andere scheinen zu glauben, daß sie eine ist.«
»Wer?«
»Ein Mann vom Außenministerium namens Wigram zum Beispiel.«
»Warum?«
»Offensichtlich deshalb, weil sie verschwunden ist.«
»Da muß noch mehr dahinterstecken. All diese Aufregung wegen einer geschwänzten Schicht?«
Er fuhr sich nervös mit den Händen durchs Haar.
»Es gibt… Hinweise. Und verlangen Sie um Gottes willen nicht, daß ich Ihnen sage, welche - nur Hinweise, zugegeben, daß die Deutschen argwöhnen könnten, wir hätten Enigma geknackt.«
Eine lange Pause.
»Aber weshalb sollte… unsere gemeinsame Freundin… den Deutschen helfen wollen?«
»Wenn ich das wüßte, Miss Wallace, säße ich nicht mit Ihnen hier und verbrächte meine Zeit damit, gegen das Geheimhaltungsgesetz zu verstoßen. Haben Sie nun genug gehört?«
Eine weitere Pause. Ein widerstrebendes Kopfnicken.
»Genug.«
Sie erzählte es wie eine Geschichte, mit leiser Stimme, ohne ihn anzusehen. Ihm fiel auf, daß sie häufig mit den Händen gestikulierte. Sie konnte sie nicht stillhalten. Sie flatterten wie kleine weiße Vögel, zupften am Saum ihres Mantels, zogen ihn züchtig über die Knie, lagen auf der Lehne der vorderen Bank, beschrieben mit raschen, kreisenden Bewegungen, wie sie bei ihrem Verbrechen vorgegangen war.
Sie wartet, bis die anderen Frauen zum Essen gegangen sind.
Sie läßt die Tür zur Registratur einen Spaltbreit offenstehen, um keinen verdächtigen Eindruck zu machen und rechtzeitig vorgewarnt zu sein, falls jemand käme.
Sie langt an dem staubigen Metallregal hoch und zieht den ersten Band heraus.
AAA, AAB, AAC…
Sie blättert weiter bis zur zehnten Seite.
Und da ist es.
Der dreizehnte Eintrag. ADU.
Sie fährt mit den Fingern die Zeile mit den Serien- und Kolumneneintragungen entlang und notiert sich ihre Nummern auf einem Stückchen Papier.
Sie stellt den Registerband zurück. Das Serienbuch steht auf einem höheren Regalbrett, und sie muß sich einen Schemel holen, um dranzukommen.
Unterwegs macht sie kurz halt, streckt den Kopf zur Tür hinaus und überprüft den Korridor.
Verlassen.
Jetzt ist sie nervös. Weshalb? fragt sie sich. Was tut sie denn so fürchterlich Unrechtes? Sie fährt mit den Händen über ihren grauen Rock, um die Handflächen abzutrocknen, dann schlägt sie das Buch auf. Sie findet die Nummer. Sie fährt abermals die Zeile entlang.
Sie überprüft es einmal, dann ein zweites Mal. Ein Irrtum ist nicht möglich.
ADU ist das Rufzeichen des Nachrichtenregiments 537, einer motorisierten Einheit der deutschen Wehrmacht. Sie sendet auf Frequenzen, die von der Horchstelle Beaumanor in Leicestershire überwacht werden. Peilungen haben ergeben, daß Regiment 537 seit Oktober im Abschnitt Smolensk in der Ukraine stationiert ist, gegenwärtig besetzt von der Heeresgruppe Mitte unter dem Kommando von Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge.
Jericho hatte sich erwartungsvoll vorgeneigt. Jetzt lehnte er sich verblüfft zurück. »Eine Nachrichteneinheit?«
Er empfand eine seltsame Enttäuschung. Was hatte er denn erwartet? Er wußte es nicht genau. Lediglich etwas, das ein bißchen… exotischer war, vermutete er.
»537«, sagte er. »Ist das eine Fronteinheit?«
»In diesem Abschnitt ändert sich die Front von Tag zu Tag. Aber der Lagekarte in Baracke 6 zufolge liegt Smolensk nach wie vor ungefähr hundert Kilometer hinter der Front auf deutschem Territorium.«
»Aha.«
»Ja. Das war auch meine Reaktion - jedenfalls zuerst. Ich meine, das ist ein ganz gewöhnliches, im Hinterland stationiertes und nicht gerade hochrangiges Objekt. Das ist allersimpelster Alltag. Aber es gibt mehrere Komplikationen.« Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und putzte sich die Nase. Jericho sah, daß ihre Finger ein wenig zitterten.
Nach dem Wiedereinstellen des Serienbandes ist es eine Sache von weniger als einer Minute, das entsprechende Kolumnenbuch herunterzuholen und die Seriennummern der aufgefangenen Funksprüche zu notieren.
Als sie aus der Registratur zurückkommt, hängt Miles (»das ist Miles Mermagen«, setzt sie in Parenthese hinzu,
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