Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Endbericht, Mai 2012.
Verändern, nicht verharren
Eine Ermutigung
Nie zuvor ist mir aufgefallen, wie fein die Haut meiner Mutter ist; sie sieht puderweich aus, da, wo das Krankenhaushemd von der Schulter gerutscht ist. Von ihrer Seite hängt ein Drainagekasten herab. Die Messgeräte zeigen einen zu hohen Blutdruck, gleichzeitig einen mauen Puls. Und nach mehrtägiger Messung steht fest: Der Taktgeber des Herzens, der Sinusknoten, ist gestört, bis zu sechs Sekunden setzt der Herzschlag aus. Das ist sehr gefährlich. Nicht nur für eine Frau im Alter von 82. Vor der Krebstherapie ein Herzschrittmacher also.
Sie wirkt immerzu ein wenig erstaunt. Anfang November fuhr sie doch noch Auto, passte auf lärmende Enkelkinder auf, schmiss ihren Haushalt, beharkte und bezupfte ihren Garten. War sich einig mit mir über Peer Steinbrück und trennte ihren Müll. Las viel, lachte viel. Und nun todkrank. Passt nicht zusammen.
Als sie an einem Novemberabend zum wiederholten Mal Atemnot hatte und kaum schlucken konnte, nahm sie ein Taxi und lieferte sich im Krankenhaus ab, in der vagen Furcht vor einem bevorstehenden Herzinfarkt. Dann, nach einigen Untersuchungen in den üblichen Apparaten, tippte sie eine SMS : Bad news. Mummy . Ein Speiseröhrenkrebs, etwa vier Zentimeter groß. Noch keinerlei Streuung.
Beim Anlegen eines Ports für die vorgesehene Chemotherapie passiert den Ärzten ein Fehler: Sie punktieren die Lungenspitze, es kommt zum Pneumothorax auf der linken Seite, der Flügel kann sich nicht ausdehnen, meine Mutter hat größte Atemnot. Die Ärztin erklärt ohne Umschweife, was schiefgelaufen ist und wie man der Sache wieder Herr wird. Sie mindert dadurch die Angst vor Komplikationen. Dann, auf der Intensivstation, wo sie – geschlaucht und gebeutelt – diagnostiziert wird, lernt sie, dass ihr Herz nicht so gesund ist, wie wir immer dachten. Ein Herzschrittmacher soll sein.
Wirklich? Beginnt auch bei ihr die Inflation medizinischer Eingriffe? Ich umkreise die Familiengeschichte: Wer wurde wann von welcher Krankheit, welcher Schwäche erwischt? Wessen Gene wirken stärker bei ihr, die der kränkelnden Mutter oder des robusten Vaters, der sehr alt wurde? Angst keimt auf. Wir holen »die zweite Meinung«: Ein Freund der Familie ist Arzt und wird kurzzeitig zum Patientenlotsen. Fragt bei den Kollegen nach, liest die Werte ab, erklärt gründlich. Eine Pflegerin aus der Verwandtschaft schenkt der Schwerkranken Sicherheit und Durchblick. Ab diesem Zeitpunkt greifen alle Lehren, die ich aus der Arbeit an diesem Buch gezogen habe. Häufige, intensive Besuche, damit sie sich nie ausgeliefert fühlt. Sich bei den Ärzten und Pflegekräften im Krankenhaus bemerkbar machen, auf Rückrufe und laufende Informationen bestehen. Mit den Verwandten und Freundinnen vor Ort viel reden, viel verabreden, sich gegenseitig stärken. Die Patientenwünsche wahrnehmen, auch irrationale. Mit der Mutter Vollmachten, Patientenverfügungen, Kurzzeitpflege organisieren. Alternativen für die Zeit daheim besprechen, denn sie hat auf Maximaltherapie bestanden, trotz ihres Alters, und will ihre Unabhängigkeit nach der Chemo und Bestrahlung nicht aufgeben. Ihr Pfleger auf der Palliativstation findet den richtigen Trost: »Trauern Sie nicht den Dingen nach, die Sie nicht mehr können. Sondern freuen Sie sich über das, was noch geht.«
Tausendfach sind die schwarzen Stunden einer Krebsbehandlung beschrieben worden, und auch diese 82-Jährige geht durch die Hölle der Nebenwirkungen. Wenn sie manchmal von Angst und Aufgeben spricht, tut das weh, so fremd sind solche Worte bei ihr. Ich werde meiner Mutter, die ich liebe, eine Kampfgefährtin in dieser Katastrophe sein. So weit, so privat.
An die Journalistin treffen bis heute Briefe und Mails ein. Einladungen zu Diskussionen, Bitten um Stellungnahmen oder Erfahrungsaustausch. Sie feuern mich an, meine individuelle Geschichte zu erzählen, um eine Stimme für viele zu werden. Seltsam, ich verarbeite mich zu einer Aufklärungskampagne und will, mit Jan Schmitt und Ursel Sieber, die Kritik am jetzigen Gesundheitssystem vertiefen. Betroffene plus Akteurin – das ist im Journalismus etwas heikel. »Du sollst dich nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten.« Volontären wird der Rat des bekannten Publizisten Hanns-Joachim Friedrichs immer noch eingebimst – bis zur Haltungslosigkeit. Aber ich bin überzeugt vom Einmischen. WER will, dass ich WAS glaube und WARUM ?
Eine Mär ist
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