Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
ausgeglichen werden muss, muss man sich reorganisieren, und dazu gehört natürlich auch die Gestaltung des Stellenplans«, führt Seeger aus, »es geschah in der Pflege sowie in anderen Bereichen auch, dass wir Benchmark-Situationen geschaffen haben.«
Benchmark-Situationen heißt, dass man Kriterien schafft, unter denen Kliniken miteinander verglichen werden können. Marburg-Gießen wurde in diesem Fall mit anderen, kleineren Rhön-Kliniken verglichen und an ihnen gemessen, und daraus wurden Zielvorgaben für Stellenbesetzungen entwickelt. Aber sind Fallzahlen an Universitätskliniken und Fallzahlen anderer Kliniken miteinander vergleichbar? Nein, das belegt eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung von 2009 63 , die auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes beruht. Sie hat ergeben, dass an Universitätskliniken Vollzeitkräfte weniger als die Hälfte der Fälle versorgen können, als dies in anderen privaten oder kommunalen Kliniken der Fall ist. Hintergrund ist die besondere Situation an Universitätskliniken. Denn zum einen findet in ihnen eben auch Forschung statt, und Medizinstudenten lernen, was sie später für ihren Beruf als Ärzte brauchen. Zum anderen werden in Universitätskliniken, im Vergleich zu anderen Krankenhäusern, sehr viele schwierigere Krankheitsfälle behandelt.
Eines hat Rhön jedoch innerhalb kürzester Zeit erreicht: Das UKGM wurde in die Gewinnzone geführt. Innerhalb von drei Jahren wurden aus acht Millionen Euro Verlust vor der Privatisierung, vor allem durch das Minus am Klinikum Gießen, zwei Millionen Gewinn. Tendenz steigend.
Wird dieser Gewinn auf dem Rücken des Pflegepersonals erzielt, wie Kritiker behaupten? Dient der zumindest gefühlte Stellenabbau also der Realisierung von Konzerngewinnen, oder dient er Rationalisierungsmaßnahmen, wie sie in allen großen Kliniken umgesetzt werden müssen, die unter dem Fallpauschalensystem um ihr Überleben kämpfen? Berührt der Stellenabbau empfindlich die Patientenversorgung, oder geht es nur um weniger wichtige Bereiche und überflüssige Kapazitäten?
Die Aussteiger
In seinem etwa zweitausend Quadratmeter großen Garten flaniert Karl-Heinz Prisille und wirft einen kritisch prüfenden, aber durchaus wohlwollenden Blick auf die Rosenbeete. Blumen und Nutzgarten sind durch angelegte Wege ordentlich voneinander getrennt. Schnell wird klar, hier verbirgt sich unendlich viel Arbeit. Arbeit und Muße, das lassen die an den verschiedenen Ecken des Gartens aufgestellten Holzbänke erahnen. Karl-Heinz Prisille hat viel Zeit, seit er nicht mehr als Stationsleiter auf einer Intensivstation in der Marburger Uniklinik arbeitet. Dreißig Jahre lang war das sein Leben. Vor zwei Monaten ging er in Rente. Auch deswegen ist er einer der wenigen, die sich zu dieser Zeit, im Hochsommer 2009, offen trauen, über die Situation in »seiner Klinik«, wie er sagt, zu sprechen. Für ihn gab es zwei Zeitrechnungen in der Uniklinik: eine vor und eine nach der Privatisierung. Etwa zehn Prozent der Stellen seien nach der Privatisierung auf seiner Intensivstation weggefallen, berichtet er. »Es wurde einfach rigoros gestrichen, und wir mussten halt sehen, wie wir uns jetzt organisieren, um das ganze Pensum noch zu erledigen.« Für diejenigen, die die Dienstplangestaltung machen, wie er, habe das bedeutet, mit weniger Leuten pro Schicht zu arbeiten. »Das heißt, es kommt zu ’ner Arbeitsverdichtung, die so und in der Form, wie sie früher abgearbeitet wurde, gar nicht mehr zu bewältigen war.« Die Klinikleitung hält dagegen und beteuert, einen solchen Stellenabbau habe es nicht gegeben. Zahlen, die den Personalstand belegen könnten, will sie allerdings nicht vorlegen.
Karl-Heinz Prisille hat seine Arbeit geliebt. Früher hätte er sich gar nicht vorstellen können, wie das wäre, eines Tages ohne Arbeit. Aber in den letzten Jahren hat er sich danach gesehnt. Nicht wegen des Alters, denn das sieht man Prisille nicht an. Er wirkt bestenfalls wie Mitte fünfzig. Und er sei immer voller Schaffenskraft gewesen, betont er. Aber der Beruf, den er am Ende gemacht habe, sei einfach nicht mehr der gewesen, den er vorher besten Gewissens hatte ausüben können.
Aus noch weiterer Ferne betrachtet im Jahre 2009 Helmut Bertalanffy die Szenerie im fusionierten UKGM . Über zehn Jahre war er Chefarzt an der Marburger Uniklinik, vor und auch noch nach der Privatisierung. Sein Fachgebiet: Neurochirurgie. 2007 ging er zum Operieren,
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