Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Klinikleitung heißt es. Ein Beweis dafür existiert allerdings nicht, und die Klinik bestreitet dies.
Fast zeitgleich formiert sich eine Gruppe niedergelassener Ärzte, die sich über die Situation am Klinikum beschweren. Aus den einzelnen Beschwerden wird bald organisierter Widerstand.
Unter der Initiative »Notruf 113« finden 2009 die ersten Treffen von Ärzten statt, die mit den Zuständen am Uniklinikum hadern. Jeder kennt Geschichten aus eigener Erfahrung und aus der seiner Patienten. Sie würden durchgeschleust, erzählen die Ärzte, im Klinikum gäbe es kaum noch Zeit, es wäre eine regelrechte Fabrik. Das Pflegepersonal wäre hoffnungslos überlastet, Zeit für die Patienten sei nicht vorgesehen, Diagnosen und Therapien würden zum Teil nicht nach medizinischen Gesichtspunkten gemacht, sondern nach Profitabilität. Kurz, die Ärzte wollen, wenn irgend möglich, Patienten nicht mehr in die Uniklinik überweisen oder nur noch in Fällen, in denen man nichts falsch machen könne. Starke Vorwürfe, deren inhaltliche Grundlage die Klinikleitung bestreitet. Bei der großen Anzahl von Behandlungen könnte niemand erwarten, dass in jedem Fall alles optimal läuft, heißt es von Rhön, »aber wir haben die mitgeteilten Fälle analysiert und können nicht nachvollziehen, dass dort eine Veränderung stattgefunden hat«. Aus den einzelnen Fällen lässt sich in der Tat eine Systemschwäche nur schwer belegen, da jeder einzelne Krankheitsfall auch einen individuellen Verlauf hat. Es handelt sich um unterschiedliche Erkrankungen der Patienten und naturgemäß auch um unterschiedliche Verläufe. Selbst wenn im Einzelfall eine Fehlbehandlung nachgewiesen wird, kann sich die Klinik also auch regelmäßig auf den jeweiligen Einzelfall berufen, der eben bedauerlich sei.
Einer der Fälle, die in dieser Zeit öffentlich werden, ist der der Familie Heckmann. Ilse Heckmann wird im Frühjahr 2009 wegen eines Schwächeanfalls in die Marburger Uniklinik eingeliefert. Das Gitter an dem Bett der alten Dame sei nicht hochgezogen worden und sie daraufhin aus dem Bett gefallen. Sieben Stunden hätten sie und ihr Mann dann auf die Röntgenuntersuchung warten müssen bis zur Diagnose: Oberschenkelhalsbruch. Tödlich könne das sein, sagt Ehemann Alfred Heckmann knapp. Auch danach hätten Pfleger und Schwestern kaum Zeit gehabt, sich angemessen um seine Frau zu kümmern, sagt Heckmann. »Die haben mir auch selbst gesagt, wir können das nicht machen, wir haben sie immer gefragt, meine Tochter und ich, können Sie denn nicht das und das machen, meine Frau muss zum Beispiel das Gebiss abends rausgenommen kriegen und so, ja, wer soll’s denn machen, wir haben kein Personal, das ist zu wenig, das schaffen wir nicht, das hab’ ich dauernd gehört.« Angesprochen auf diesen Fall, sagt die Geschäftsleitung der Klinik damals: »Wenn es passiert ist, ist das schlecht, und es mag durchaus sein, dass bei 85000 stationär behandelten Patienten und 300000 ambulant behandelten Patienten auch so etwas passiert.«
Für Ilse Heckmann ist jedenfalls nach dem Klinikaufenthalt die Treppe, die in ihrem Haus am Rande Marburgs hinauf ins Schlafzimmer führt, zum unüberwindlichen Hindernis geworden. Sie und ihr Mann übernachten nun auf Gartenliegen im Wintergarten. Den hat Alfred Heckmann vor Jahren an das Wohnzimmer angebaut für Abende, an denen es im Garten zu kühl ist. Nun liegen Bücher und Rätselhefte auf dem Gartentisch, und neben der Liege auf dem Boden stehen Medikamentenschachteln und eine Schnabeltasse. Für den Sommer mag das gehen, aber wo sie im Winter schlafen sollen, das wissen Ilse und Alfred Heckmann bislang nicht. Nur ein bedauerlicher Einzelfall oder ein Zeichen für die Überforderung des Personals an dieser Klinik, wie die niedergelassenen Ärzte glauben?
Einer der Ärzte, die regelmäßig zu den Treffen von »Notruf 113« kommen, ist Dr. Hendrik Eckert. An Wochenenden arbeitet der niedergelassene Allgemeinmediziner oft in einem kleinen grauen Bungalow aus den 70er Jahren am Fuße der Lahnberge. Ein großes Hinweisschild soll die Patienten in die dortige ambulante Notfallstation lenken. Vor allem am Wochenende teilen sich niedergelassene Ärzte die Schichten hier und sind Anlaufstelle für alles, was plötzlich auftritt. Der knapp über 60-jährige Eckert bekommt Vieles zu sehen. Brüche, Schnitte, Infektionen, aber nichts davon schreckt ihn mehr. Hendrik Eckert ist ein ruhiger Mann, er tut, was nötig ist, und lässt sich nicht
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