Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Forschen und Lehren in die Schweiz. Sein neuer Arbeitsplatz wurde die Uniklinik Zürich, die hoch über der Stadt und dem See thront. Geradezu paradiesisch seien die Bedingungen hier, sagt Bertalanffy. »Was wir brauchen, bekommen wir, und das ist: vor allem Zeit.« Trotzdem wollte er ursprünglich gar nicht weg aus Marburg. Aber dann, »eineinhalb Jahre nach der Privatisierung musste ich erkennen, dass ich die Pflichten als Chefarzt und Direktor einer Universitätsklinik nicht mehr so erfüllen konnte, wie es einer Uniklinik angemessen ist. Die neue Klinikleitung ist dazu übergegangen, Stellenkürzungen vorzunehmen, die zum Beispiel meine Klinik dermaßen empfindlich getroffen hätten, dass weder die Qualität der Krankenversorgung noch die Qualität von Lehre und Forschung gestimmt hätte. Eine Situation, mit der ich so nicht weiter leben wollte und konnte«.
Bertalanffy sieht in der Privatisierung den Grund für die Arbeitsverdichtung. Dazu kommt aber auch eine politische Weichenstellung, die die Schweiz damals noch nicht mitgemacht hat; denn zu diesem Zeitpunkt gibt es in der Schweiz noch kein Fallpauschalen-System, das ist dort erst 2012 eingeführt worden. Damals stehen die dortigen Kliniken also unter sehr viel geringerem Kostendruck als ihre deutschen Pendants.
Ein Kostendruck, der sich auf die großen Häuser und Unikliniken, die sich nicht auf bestimmte, einträglichere Behandlungsmethoden spezialisieren können, besonders auswirkt. Kleinere Kliniken können untereinander Kooperationen abschließen, die es erlauben, nicht mehr alle Fachbereiche vorhalten zu müssen. In der Spezialisierung liegt enormes Einsparpotenzial, und es hilft mitunter auch den Patienten. Denn wo Ärzte regelmäßig mit ähnlichen Krankheitsbildern zu tun haben und der Durchlauf der Patienten größer ist, wird auch besser behandelt. Wenn eine Klinik also eine große Zahl bestimmter Behandlungen vornimmt, ist in der Regel der Behandlungserfolg besser. Das zeigt beispielsweise eine Studie der Johns-Hopkins-Universität 64 . Danach ist in Krankenhäusern mit weniger als sechs Herztransplantationen im Jahr das Mortalitätsrisiko bei Risikopatienten um 67 Prozent höher als in Zentren mit einem hohen Eingriffsvolumen von mehr als 15 Operationen jährlich. Eine andere US -Studie unterstreicht das. Danach ist das Sterblichkeitsrisiko in großen Zentren mit hohen Fallzahlen bei Herzinfarkt um 11 Prozent, bei Herzschwäche um 9 Prozent und bei einer Lungenentzündung um 5 Prozent geringer als in kleinen Häusern 65 . Wo häufiger operiert wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dabei zu sterben, also geringer.
Maximalversorger wie das UKGM haben aber naturgemäß schon einen großen Patientendurchlauf. Die Möglichkeiten, ganze Abteilungen zusammenzulegen, sind sehr begrenzt. Zwar kann man zwischen Gießen und Marburg enger kooperieren, darüber hinaus muss aber auch das ganze Spektrum medizinischer Abteilungen vorgehalten werden, um die umfassende universitäre Ausbildung der Medizinstudenten zu gewährleisten.
Die letzten Auswege
Auch in den folgenden Jahren sammeln die niedergelassenen Ärzte von »Notruf 113« Fälle von unangemessener Behandlung oder Fehlversorgung, kämpft Bettina Böttcher den Kampf mit der Geschäftsführung, gießt Karl-Heinz Prisille seine Blumen, behandelt Hendrik Eckert Fleischwunden am Fließband und treibt der Chefarzt der Neuroonkologie, Andreas Neubauer, Forschungsgelder ein.
Es ist das unwirtliche Frühjahr 2012. Was für ein seltsames Wesen der heute 53-jährige Neubauer ist, darüber muss er oft selbst schmunzeln. »Durch mich geht eine Linie«, sagt er. »Ich bin zu 40 Prozent Forscher und gehöre dem Land und zu 60 Prozent Krankenversorger und werde von Rhön bezahlt.« Besonders absurd wird es aber in den neuen Räumlichkeiten, in denen er forscht, denn die gehören nach wie vor dem Land und der José-Carreras-Stiftung zusammen. 2009 wurden sie eröffnet. Wären sie auch an Rhön verkauft worden, hätte die José-Carreras-Stiftung sich aus der Finanzierung der Forschung zurückgezogen, und Neubauer wäre mit einem Schlag vom Spitzenmediziner mit exzellentem Ruf als weltweit anerkannter Krebsforscher zum einfachen Arzt degradiert worden. Doch so weit ist es nicht gekommen. »Allerdings«, sagt Neubauer, »findet hier auch Patientenversorgung statt. Natürlich liegen hier Menschen auf der Station, denen täglich geholfen wird.« Deswegen hat Rhön ebenso viel Geld zur Spezialstation beigetragen wie die
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