Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
hetzen, auch wenn das Wartezimmer voll ist, wie meistens. Eine Sprechstundenhilfe gibt es nicht. Der Reihe nach ruft der grauhaarige Arzt seine Patienten in einen quadratischen weißen Raum, der mit allem ausgestattet ist, was der spontanen Diagnosefindung dient. Die meisten Patienten kann er direkt hier behandeln, nur die schweren Fälle und die, bei denen eine genauere Untersuchung zur Diagnosefindung nötig ist, muss er gleich zur stationären Untersuchung weiterschicken, meist in die nur ein paar Kilometer entfernte Uniklinik. Aber genau hier läge das Problem, sagt er, denn seit der Privatisierung würden die Patienten immer häufiger aus der Klinik entlassen, ohne dass die Erkrankung festgestellt worden sei. »Damit ist der Grund, warum Patienten in die Klinik überwiesen werden, ad absurdum geführt, denn jetzt müssen die niedergelassenen Ärzte versuchen, trotz dieses Defizits, dieses Mangels herauszubekommen, was der Patient hat.«
Kann das stimmen? Geschäftsführer Werner Seeger wiegelt ab und zitiert wieder die Zahlen: »Dazu möchte ich sagen, dass dieses nach unseren Untersuchungen nicht nachvollziehbar ist. Zunächst mal, bei mehr als 85000 stationären Patienten und mehr als 300000 ambulanten Patienten wird niemand, niemand die Erwartung äußern, dass alles in jedem Fall optimal läuft. Das wäre unrealistisch.«
Im Verweis auf die Behandlungszahlen liegt ein Schlüssel, um die Situation zu erklären; denn eben diese Zahlen sind in Marburg und Gießen seit der Privatisierung deutlich gestiegen; laut Auskunft der Klinikleitung um 4500 allein im Jahr 2008 auf insgesamt 85000. Aber sind auch die Planstellen mitgewachsen? Oder verteilte sich immer mehr Arbeit auf dieselbe Anzahl Beschäftigter?
In einem Nebengebäude der Uniklinik Marburg, hinter einigen Bauwagen und Containern, liegt das Büro von Betriebsrätin Bettina Böttcher. Die kleine, gemütlich wirkende Frau macht keinen Hehl daraus, dass sie zufällig in ihre Position gekommen ist, gerissen hat sie sich nicht darum; »aber einer musste es ja machen«, sagt sie. Über 15 Jahre hatte sie in der Wäscherei der Klinik gearbeitet, bevor sie als Personalrätin im Jahre 2002 freigestellt wurde. Seit 2006 ist sie Betriebsratsvorsitzende und sitzt heute regelmäßig mit Vertretern der Klinikleitung an einem Tisch, verhandelt über Arbeitsplätze, Arbeitszeiten, über Löhne, Freiräume und vieles mehr. Nur eines kennt die Betriebsratsvorsitzende seltsamerweise nicht: die genauen Beschäftigungszahlen an der Klinik. Denn die will ihr die Klinikleitung nicht geben. »Ein bisschen wie Blindflug«, erklärt Bettina Böttcher. »Wir müssen uns mühsam durch die Stellenpläne der einzelnen Stationen arbeiten, um uns einen Überblick zu verschaffen.« Und dabei wurde Bettina Böttcher fündig: »Es wurden Stellen abgebaut nach einem Rasenmäherprinzip«, sagt sie. »Und faktisch hat es die Pflege besonders getroffen, viele Fristverträge sind nicht verlängert worden.«
Anfangs war es schwer für sie, bei den Verhandlungen sprachlich und taktisch mit der Klinikleitung mitzuhalten, kompensiert hat sie das dann durch ihre Zähigkeit. Denn gerade in den letzten Jahren hat Bettina Böttcher ihr Kämpferherz entdeckt. Freizeit kennt die Mutter von Zwillingen seitdem kaum noch. Es sind stürmische Zeiten für die Betriebsrätin. Hunderte Überlastungsanzeigen sind in den zurückliegenden Monaten des Jahres 2009 bei ihr eingegangen, von Pflegekräften und Servicepersonal, das mit der Arbeit nicht mehr zurecht kommt oder zu großen Druck verspürt. »Besonders berührt hat mich nach der Privatisierung, dass die Kolleginnen und Kollegen zu mir kommen, besonders eine Kollegin aus der Pflege, die geweint hat, weil sie völlig ausgebrannt ist.«
Stellenabbau im großen Stil? Bei Rhön hält man sich dazu bedeckt, Beschäftigtenzahlen gibt die Geschäftsleitung von Rhön nicht heraus. Aber man räumt ein, dass über hundert befristete Stellen von Ärzten und Pflegern derzeit nicht besetzt sind. »In einer Anfangsphase, einer schwierigen Situation, in der ein Klinikum neu zusammengeführt, in der ein Defizit ausgeglichen werden muss, in der man überhaupt die Zukunftsplanung erst gestalten muss, ist man in der Besetzung befristeter Stellen zurückhaltend. Ich denke, das ist sehr gut nachvollziehbar«, sagt Werner Seeger, damals darauf angesprochen. Heißt das, es wurden Stellen abgebaut, um ein Defizit auszugleichen? »In einer Situation, in der ein Defizit
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