Entfernung.
Jonathan erzählte einem immer, wie der kaufmännische Direktor des Royal Court sich aufregte. Über seine Rechnungen. Aber diesmal musste sie zahlen. Da konnte sie sicher sein, dass es sich um ein gutes Lokal handeln würde. Die Adresse war Kensington Highstreet. Das klang nicht nach Pizzeria. Und richtig sommerliche Kleidung. Das war nicht professionell. Jedenfalls nicht in ihrem Alter. Beim »Schnattl« stand das Schild auf dem Gehsteig. Das Mittagsmenu waren gefüllte Paprika für 7 Euro 20. Die Fenster zum Restaurant standen weit offen. Sie ging auf die andere Straßenseite. Im Restaurant gingen die Kellner in ihren schwarzen Jacken und weißen Hemden. Die Kellnerin in Zagreb fiel ihr ein. Wie die bei der Hitze hin und her gelaufen war. Schweißüberströmt. Freundlich. Da hatte sie noch gedacht, dass sie das nicht könnte. Dass sie sich so ihren Lebensunterhalt nicht verdienen könnte. Sie ging in den Schatten der Maria-Treu-Gasse. Das Auto musste da stehen. Sie hatte es doch gestern hier abgestellt. Nach dem Film. Sie hatte noch der Filmemacherin zugehört. Kurz. Sie war dann bald gegangen. Alle Frauen kämpften um ihre Positionen. Alle hatten es nicht leicht. Aber die, die zurückfielen. Die sich an die Väter anschmiegten. Wieder anschmiegten. Das konnte sie nicht aushalten. Das musste sie sich nicht anhören. Das Publikum. Ein Publikum heute. Das war fürchterlich tolerant. Das fällte keine Urteile mehr. Das sagte nicht einmal seine Meinung. Das war nur mehr wie bei den kleinen Kindern und dem Onkel, der ihnen Zuckerln anbot. Die einen nahmen es. Die anderen nahmen es nicht. Aber niemand redete über die Onkels. Und die Onkels hatten die Zuckerln zum Verteilen. Sie sah ihr Auto vorne auf der anderen Straßenseite. Sie verließ den Schatten. Stieg auf die Straße. Zwängte sich zwischen 2 eng geparkten Autos durch. Überquerte die Gasse. Ein silberner BMW musste bremsen. Ihretwegen. Der Fahrer ließ das Auto aber weiterrollen. Bremste nicht ganz ab. Beim Gehen über die Straße rollte die Kühlerhaube in ihr Blickfeld. Rechts. Rollte auf sie zu. Wenn sie gestolpert wäre, der Fahrer hätte nicht mehr bremsen können. Sie hätte stehen bleiben wollen. Stehen bleiben und den Fahrer zwingen, doch noch. Eine Notbremsung. Das Fahrzeug zum Stehen zu bringen. Stillzustehen. Ihr Platz lassen. Platz machen. Das Auto hetzte sie. Trieb sie über die Straße. Rechnete mit ihrer Flucht. Sie hatte Lust, auf die Kühlerhaube einzuschlagen. Am liebsten mit einem Hammer. Einer Eisenstange. Sie lief die letzten Schritte über die Straße. Sprang zwischen 2 Autos durch auf den Gehsteig. Schaute gerade vor sich hin. Auf den Gehsteig. Nicht kümmern, sagte sie sich. Nicht kümmern. Die Lust blieb. Der Wunsch auf dieses Auto einzuschlagen. Auf diese Kühlerhaube einzudreschen. Oder noch lieber. Auf den Fahrer losgehen. Sie hatte ihn nur aus dem Augenwinkel gesehen. Zurückgelehnt war er dagesessen. Den einen Arm auf der Autotür aufgestützt. Helles Hemd. Krawatte. Sonnenbrille. Braun gebrannt. »Hallo Selma.« Sie sah auf. »Eva.« sagte sie. »Was machst du hier.« Sie blieb stehen. Die Frau stand vor ihr. Sie lächelte die Frau an. »Ich wohne hier.« sagte die Frau. Selma wüsste das doch. »Hast du die Wohnung noch.« sagte Selma. Sie wollte schon sagen, dass sie auch. Dass sie auch wieder hier wohne. Dass es sie wieder hierher zurückverschlagen hatte. Sie hätte lachen wollen dazu. Sich lustig machen. Sich über die Wechselfälle des Lebens lustig machen. Als stünde sie über dem allem. Als wäre das normal für sie. Als hätte sie solche Krisen immer schon bewältigt. Sie sagte dann, dass sie leider keine Zeit habe. Für einen Kaffee. Sie sei auf dem Weg zum Flughafen. Ein Termin in London. Es klang angeberisch, wie sie das sagte. Die Frau sah sie spöttisch an. Ihre Termine führten sie nur noch nach Kalksburg, sagte sie. Spöttisch vorwurfsvoll. Selma wusste nichts zu sagen. Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn es hilft.« sagte sie dann. Die Frau war dünn. Mager. Die schmierigen Jeans hingen an den hervorstehenden Hüftknochen. Das T-Shirt reichte nur bis über den Nabel. Der Bauch. Nach innen gefallen. Blaue Adern zogen sich durch die fahle Haut. Der Nabel von einem Kreis bläulicher Adern umgeben. Das weiße T-Shirt lose. Die Schultern nach vorne gefallen und sich kein Busen abzeichnete. Die Arme knochendünn. »Geht es dir gar nicht besser.« fragte Selma. Die Frau steckte die Hände in die Jeanstaschen. Zog die
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