Entfernung.
Schultern hoch. Das würde wohl nichts mehr, meinte sie. Ihr Gesicht war voll. Die Backen und die Stirn. Wie geschwollen. Die zerplatzten Adern zeichneten sich genau ab. Die Nase war oben eingesunken. Zerbrochen. Das Gesicht sah fröhlich aus. Ein Mondgesicht. Ein rotes Mondgesicht. Mehr ein Mann als eine Frau. Die Haut großporig und glänzend. Die Frau sah Selma ins Gesicht. Sah sie aufmerksam an. Langsam. Dann wandte sie sich ab. Sah zu Boden. Sie schaute auf den Gehsteig. Auf ihre alten Birkenstock-Sandalen hinunter. Die Hände in den Hosentaschen. Sie drehte eine Schulter nach vorne. Dann die andere. Abwechselnd. Schaukelte sich so. Kam in ein Wiegen. Verharrte in der Bewegung. Dann sah sie plötzlich wieder auf. Hielt still. Schaute in Selmas Blick. Schaute Selma wieder in die Augen. »Sei froh, dass es dir gut geht.« sagte sie. Sie war wie früher. Während sie Selma in die Augen schaute und diesen Satz sagte, war sie wie früher. In der Mittelschule. Die beste Sportlerin. Die beste Tänzerin. Die beste Skifahrerin. Mühelos. Sie war die Erste gewesen, die Sex gehabt hatte. Die dann im Umkleideraum auf den Metallspinden oben gestanden hatte und es allen vorgespielt. Sie hatte den Mann gegeben. Und die Gritschi Perlinger hatte die Frau spielen müssen. Wie eine Gymnastiklektion hatte sie das vorgemacht. Liebe machen. Sie hatte der Gritschi Perlinger genau gesagt, wie sie die Beine spreizen musste. Und wann einen kleinen Schrei ausstoßen. Selma wollte sagen, dass es bei ihr auch nicht so. So ideal aussähe. Sie wollte gerade die Serie der Schickssalsschläge aufzählen. Wollte sich dieser Person über die Aufzählung ihres Unglücks nähern. Ihr alles erzählen. Mitteilen. Ihr Unglück ausbreiten, damit die andere sich nicht allein fühlen solle. In ihrem Unglück. Sie dachte, das wäre eine Basis. Eine Verständigungsbasis. Und ein Gespräch. In dem sie diese Person erreichen konnte. In dem sie einander erreichen konnten. Wie früher. Und nicht so. Sie standen einander gegenüber. Die Frau musterte sie. Bevor sie zu reden beginnen konnte, wandte sich die Frau ab. Sie drehte sich weg. Sprach die Frage schon an Selma vorbei. Sie ging weg, während sie Selma fragte. »Mit dem Toni bist du aber nicht mehr zusammen. Was?« Selma sah ihr nach. Die Frau ging mit gesenktem Kopf. Die Arme an den Oberkörper gepresst. Die Hände tief in den Jeanstaschen. Die Schultern hochgezogen. Sie war dünn. Ein Skelett. Sie schob die Füße knapp über dem Boden nach vorne. In kleinen Halbkreisen schob sie den einen Fuß am anderen vorbei. Die Sohlen der Birkenstock-Sandalen schliffen über den Gehsteig. »Eva.« sagte Selma. »Eva.« Die Frau bewegte sich auf die Hausmauer zu. Knapp bevor sie anstieß, wandte sie sich zu Selma zurück. »Der hat doch jetzt ein Kind.« sagte sie. Sie ging weiter. Von der Hausmauer bewegte sie sich auf den Gehsteigrand. Und wieder zur Hausmauer zurück. Selma sah ihr nach. Sie sah ihr nach, bis sie um die Ecke gegangen war. Bis sie in die Lange Gasse eingebogen war. Dann ging sie ihr nach. Die Frau war weitergegangen. Schlurfte die Hausmauer entlang. Selma schaute nur um die Ecke. Die Handtasche fiel ihr von der Schulter. Sie fing sie mit dem Unterarm auf. Stand. Schaute die Gasse hinunter. Schaute auf den Boden vor sich. Hundekot am Gehsteigrand. Vertrockneter, vom Regen verwaschener Hundekot. Frischer Hundekot. Braun glänzend. Die Schulfreundin ging weiter. Langsam taumelnd. Sie drehte um. Ging die Maria-Treu-Gasse hinunter. Ihr Auto der vorletzte Wagen vor der Piaristengasse. Sie ging auf das Auto zu. Eilte. Holte den Schlüssel aus der Tasche. Beim Auto blieb sie stehen. Die Beine blieben stehen. Bewegten sich nicht. Bewegten sich nicht nach vorne. Sie wollte zurück. Sie stellte sich den Vater vor. In der Lange Gasse. Wie er die Florianigasse heraufkam und um die Ecke bog. Um diese Zeit kam er aus dem Kaffeehaus wieder zurück. Sie sah ihn gehen. Der Khakianzug. Die grüne Krawatte. Die korrekten Schuhe. Sie wollte ihm nachlaufen. Rufen. Dass er stehen bleiben solle. Warten. Auf sie warten. Sie sah das kleine Lächeln, mit dem er sich umdrehte. Mit dem er sich umgedreht hätte. Und wie sie dann nebeneinander in die Wohnung hinauf. Sie sperrte die rechte Autotür auf. Stellte die Handtasche und den Rucksack auf den Beifahrersitz. Sie ging um das Auto herum. Wartete, bis ein schwarzer Mercedes an ihr vorbeigefahren war und sie Platz hatte, die Autotür zu öffnen. Sie stieg in das Auto. In die
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