Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
mit einem begriffsstutzigen Dorftrottel.
»Ich weiß sehr wohl, wo ich bin und wer mich umgibt. Im Unterschied zu dir sind mir die Fakten genau bekannt. Ich habe kein Kind hingerichtet, sondern einen voll gewandelten Vampyr, der von meiner Hohepriesterin wegen Mordversuchs verurteilt wurde. Und dabei hat sie nicht Gebrauch von alter Magie gemacht, sondern nur nach alter Rechtsprechung gehandelt.« Wie üblich konnte Kalona den Ton seines Bruders kaum ertragen.
»Der Junge war kaum achtzehn Jahre alt.«
»Wenn du Kritik an der Exekution eines geständigen Mörders üben willst, so wende dich an Thanatos, den Schulrat, zwei Prophetinnen der Nyx und Zoey Redbird.«
»Niemand von ihnen hat das Schwert geführt, das dem Vampyr den Kopf abschlug, und niemand von ihnen hat zwei Jungvampyre dem sicheren Tod überantwortet.«
»Ich bin ein eidgebundener Krieger der Thanatos. Wenn sie mir einen Befehl gibt, führe ich ihn aus.«
»Schade für dich, dass du nicht Nyx solch blinden Gehorsam erwiesest, als du noch ihr eidgebundener Krieger warst.«
Kalona sah seinem Bruder unverwandt in die bernsteinfarbenen Augen. »Ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Und du?«
Erebos wandte den Blick ab.
»Nun richte mir endlich diese Warnung aus und verschwinde. Ich beginne mich zu langweilen.«
»Nun wohl. Es ist an mir zu verkünden, dass durch euer Berufen auf uraltes Recht die alte Magie erwacht ist. Nyx warnt dich, dass du mit Kräften spielst, die du zu beherrschen nicht in der Lage bist.«
»Sollte Nyx dann nicht besser ihre Hohepriesterin Thanatos warnen? Sie hat diese alten Kräfte heraufbeschworen.«
»Nur du aber hast die Macht, im Kampf zwischen Licht und Finsternis als Zünglein an der Waage zu dienen. Schon einmal konnte die Göttin beobachten, wie du dich alter Magie bedientest. Die Rabenspötter wurden durch sie erschaffen.«
Kalona fühlte einen Stich schlechten Gewissens. Trotzdem sagte er: »Meine Söhne wurden durch Vergewaltigung und Zorn erschaffen.«
Ernst nickte Erebos. »Ja. Alte Magie.«
»Auch Nyx gebraucht alte Magie!«
»Bist du schon so verblendet und anmaßend zu glauben, du könntest über dieselbe Macht gebieten wie die Göttin?«
»Ich bin nicht verblendet! Seit ich fiel, war mein Geist nie so klar wie jetzt.« Kalona trat auf Erebos zu. »Und meine Anmaßung ist nichts verglichen mit der deinen, kleiner Bruder. Ohne mich als Zünglein an der Waage bist du es, der sich einbildet, so mächtig wie Nyx zu sein.«
»Gleichgewicht. Genau das ist der Kern meiner Rede, Bruder. Die beiden Stiere bestehen aus alter Magie und sollten eigentlich auf ewig im Kampf gegeneinander gefesselt sein.«
»Ich habe nichts mit dem weißen oder dem schwarzen Stier zu schaffen.«
»Glaubst du das wirklich? Du warst lange genug an Nyx’ Seite, um zu wissen, dass die alte Magie so mächtig wie heimtückisch ist. Sei klug! Sei umsichtig! Hab ein Auge auf die Mächte, die ihr herbeiruft, ehe es zu spät ist. So lautet die Warnung der Göttin!«
Kalona kniff die Augen zusammen und wandte den Kopf ab. Der Ball aus Sonnenlicht flammte auf, hüllte Erebos ein und verschwand wieder. Nur goldener Flitter blieb zurück, den Kalona mühsam von seinen Schwingen bürsten musste.
»Nyx!«, sprach er zum Himmel gewandt. »Mich nennt er anmaßend, aber er verabschiedet sich in Lichtblitzen und Funkelregen. Ich verstehe nicht, wie du sein affiges Getue schon so lange ertragen kannst!«
Ein vertrautes Lachen wehte ihn an, das den Unsterblichen stets an den vollen Septembermond erinnert hatte. Er schloss die Augen vor Schmerz und Sehnsucht, doch zugleich ließ Hoffnung sein Herz schneller schlagen. »Du beobachtest mich. Ich weiß es«, flüsterte er.
Das Lachen verklang. Kalona öffnete die Augen. Wie unter einer schweren Last setzte er sich in Bewegung. Er musste zurück, um Wache über die Jungvampyre zu halten. Das war etwas, was er tun konnte – worin er gut war.
»Solange ich über sie wache, wird kein weiterer Jungvampyr die Gelegenheit bekommen, sich solch sträfliche Dummheiten zu leisten. Dafür werde ich sorgen«, sprach er seine Gedanken aus. Was er nicht aussprach, ja sich selbst im Stillen nur ungern eingestand, war, dass ihm nicht aus dem Kopf ging, wie die beiden Jungvampyre um Gnade gebettelt hatten. Den Vampyr zu köpfen war nicht schwer gewesen. Dallas hatte versucht, eine Vampyrin zu ermorden – die Strafe war gerecht gewesen. Es waren die beiden Jungvampyre, die ihm nachgingen.
Unreife Knaben, die nur
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