Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
unklugerweise dem falschen Anführer gefolgt waren
, dachte er.
Mitgefühl.
Die geflüsterten Worte ließen ihn innehalten. »Nyx?«
Mitgefühl.
Noch einmal dieses Wort. Nicht laut genug, als dass Kalona es hätte beschwören können – aber diese Wärme, diese unendliche Liebe darin, das konnte nur Nyx sein. Und dann wurde Kalona bewusst, wo er zum Stehen gekommen war. Direkt vor dem hölzernen Tor zu Nyx’ Tempel.
Das Tor, das sich unter seiner Berührung in Stein verwandelt hatte, als seine Göttin ihm den Eintritt verwehrt hatte.
Langsam, als tauche er aus Jahrhunderten der Sehnsucht nach ihr empor, hob Kalona die Hand. Legte sie auf die Tür in der Erwartung, sie werde sich in unnachgiebigen Stein verwandeln.
Das Holz blieb Holz.
Mit zitternder Hand berührte Kalona den Türgriff. Er drehte ihn und drückte dann dagegen. Mit einem Laut wie ein Frauenseufzer öffnete sich die Tür.
Kalona betrat den Vorraum des Tempels. Das Geräusch plätschernden Wassers drang zu ihm, aber er schenkte dem glitzernden Amethystbrunnen in einer Wandnische kaum einen Blick. Er trat unter einem Rundbogen hindurch und fand sich im Herzen des Heiligtums wieder.
Süß und schwer lag der Duft von Vanille und Lavendel in der Luft. Er stammte von Kerzen, die in schmiedeeisernen Leuchtern von der Decke hingen. An den Wänden standen weitere, wie Bäume geformte Kerzenständer, ebenfalls mit Duftkerzen bestückt. Die Ecken des Raumes wurden von Wandleuchtern in Form graziler Frauenhände geziert. In einer Vertiefung im Steinboden brannte ein offenes Feuer. Doch auch hiervon bemerkte Kalona kaum etwas. Sein Blick lag einzig auf dem uralten hölzernen Tisch in der Mitte des Tempels, auf dem eine zierliche Marmorstatue der Göttin stand. Mit unsicheren Schritten trat Kalona vor sie hin und kniete nieder. Er blickte zu ihr auf. Sie schien zu glitzern, und da erkannte Kalona, dass seine Augen sich mit Tränen gefüllt hatten.
»Danke«, sagte er mit tränenerstickter Stimme. »Ich weiß, ich verdiene es noch immer nicht, zu deinen Füßen zu knien. Vielleicht werde ich es niemals verdienen. Nicht nach dem, was ich uns beiden angetan habe. Doch danke, dass du mir erlaubst, dein Haus zu betreten.«
Kalona neigte den Kopf, und lange, sehr lange weinte er dort, auf den Knien vor seiner Göttin.
Neferet
Zusammengerollt lag Neferet da, die Arme um die Fäden der Finsternis geschlungen, die sie noch immer bedeckten, und durchlebte noch einmal das Ende ihrer Suche.
Cascia Hall hatten die Menschen jene Privatschule genannt, die im Herzen von Tulsa auf dem Stück Land erbaut worden war, das Neferet so anzog. Die reine Knabenschule wurde von der Augustinergemeinschaft der Gottesfürchtigen betrieben und stand 1927 nicht zum Verkauf. Neferet hatte das nicht gestört. Noch war der Hohe Rat der Vampyre ohnehin nicht bereit, eine weitere Schule in Amerika zu kaufen – zumindest nicht im Tulsa des Jahres 1927 .
Die Zeit war ihr Verbündeter, das wusste Neferet. In den fünfundsiebzig Jahren, die sie brauchte, um den Hohen Rat durch Intrigen, Drohungen, Bestechung und subtiles Drängen dazu zu bringen, den Augustinermönchen ein Angebot zu machen, das diese nicht ablehnen konnten, und sie außerdem zur Hohepriesterin des neuerworbenen House of Night in Tulsa, Oklahoma, zu machen, ergründete Neferet ihr wahres Wesen.
Sie war Tsi Sgili. Nein, sie war mehr als ein albernes Schauermärchen der amerikanischen Ureinwohner. Sie war eine mächtige Hohepriesterin, deren Gaben so viel mehr darstellten, als es auf den ersten Blick schien. Königin der Tsi Sgili – das war der Titel, der ihr zukam.
Kein Wunder, dass Oklahoma sie derart angezogen hatte. Durch das Volk der Cherokee, das dort siedelte, entdeckte Neferet einen verborgenen Aspekt ihrer intuitiven Gabe. Sie konnte nicht nur die Gedanken anderer lesen. Sie konnte auch deren Energie absorbieren. Doch nur in einem einzigen Augenblick: dem ihres Todes.
Das hatte die alte Frau sie gelehrt. Als diese starb, nahm Neferet nicht nur ihre Gedanken in sich auf. Sie machte sich auch die Macht der Alten zu eigen.
Und so wurde der Tod wie eine Droge für sie, von der sie nicht genug bekommen konnte.
Entlang der Echos im Geist der Alten begann sie, mehr über die Tsi Sgili herauszufinden.
Was Neferet erfuhr, war ihre eigene Geschichte. Tsi Sgili lebten abseits ihres Stammes. Sie waren mächtig und fanden Vergnügen am Tod – ja, sie nährten sich von ihm. Sie waren fähig, nur mit Hilfe ihres
Weitere Kostenlose Bücher