Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
komm zu mir. Unterstütze die anderen Elemente darin, diese Finsternis zu vertreiben, die nicht an unsere Schule gehört.«
Ein langgezogenes Zischen ertönte, und alle Spinnen fielen von den Käfigen ab. Die Wasserpfütze erzitterte und begann sich zu verformen, dehnte sich aus, wurde länger.
Ich konzentrierte mich, spürte, wie der Geist mich erfüllte, das Element, zu dem ich die stärkste Affinität hatte, und stellte mir vor, wie die Pfütze voller Spinnen vom Campus geschwemmt wurde, so wie jemand mit einem Schlauch einen Haufen ekligen Faulschlamm wegspült. Mit diesem Bild vor Augen befahl ich: »Und jetzt verschwindet!«
»Raus!«, echote Damien.
»Geht!«, rief Shaunee.
»Haut ab!«, sagte Erin.
»Hasta la vista!«, knurrte Stevie Rae.
Und genau wie in meiner Vorstellung hob sich die Spinnenpfütze vom Boden, als würde sie gleich weggeblasen. Aber schon im nächsten Atemzug nahm die dunkle Masse eine vertraute Form an – sinnlich, wunderschön, tödlich. Neferet! Noch waren ihre Gesichtszüge unscharf, aber ich erkannte sie und die üble Energie, die von ihr ausging.
»Nein!«, schrie ich. »Geist! Stärk die Elemente mit der Energie unserer Liebe und Gemeinschaft! Luft! Feuer! Wasser! Erde! Hört auf mich und jagt sie fort!«
Ein schreckliches Kreischen ertönte, und die Neferet-Erscheinung stürmte los. Sie stieg hoch über unseren Kreis und brach wie eine grausige schwarze Woge über Erin herein. Dann floh das Gespenst, raschelnd und wispernd wie tausend Spinnen, durch das Eingangstor der Schule und löste sich in Luft auf.
»Heilige Scheiße. Das war mal echt eklig«, sagte Aphrodite.
Ich wollte ihr gerade zustimmen, da hörte ich das erste rasselnde Husten. Und spürte, wie der Kreis auseinanderbrach, noch ehe sie auf die Knie fiel. Sie sah zu mir auf und hustete zum zweiten Mal. Blut benetzte ihre Lippen. »Hätte nicht gedacht, dass es so endet«, keuchte sie.
Aphrodite wirbelte herum. »Ich hole Thanatos!« Und sie jagte davon.
Shaunee kniete sich neben ihren bereits blutbefleckten Zwilling. »Nein! Das darf nicht sein. Zwilling! Bitte! Du wirst wieder gesund.«
Erin sank ihr in die Arme. Damien, Stevie Rae und ich wechselten einen Blick, dann knieten wir uns wie auf Kommando neben sie und halfen ihr, ihre Freundin festzuhalten.
»Es tut mir so leid«, schluchzte Shaunee. »All das Miese, was ich zu dir gesagt habe, hab ich doch gar nicht so gemeint!«
»Ist – schon okay, Zwilling«, stieß Erin mühsam zwischen entsetzlichen Hustenanfällen hervor. Blut stieg ihr blasig aus der Kehle, strömte ihr aus Augen, Ohren und Nase. »War meine Schuld. Ich – ich konnte nicht mehr fühlen.«
Ich strich Erin übers Haar. »Wir sind bei dir. Geist, lass sie ruhig werden.«
»Erde, schenk ihr Geborgenheit«, sagte Stevie Rae.
»Luft, hüll sie ein«, sagte Damien.
»Feuer, wärme sie«, sagte Shaunee unter Tränen.
Erin lächelte und berührte Shaunees Wange. »Es wärmt mich schon. Ich – ich fühl mich nicht mehr kalt und einsam. Ich fühl mich gar nichts mehr, nur noch müde …«
»Ruh dich aus«, sagte Shaunee. »Ich bleibe bei dir, während du schläfst.«
»Wir alle bleiben bei dir«, sagte ich und wischte mir mit dem Ärmel Tränen und Rotz vom Gesicht.
Noch einmal lächelte Erin Shaunee an, dann schloss sie die Augen und starb.
Und Shaunee hielt sie ganz fest in den Armen.
Eins
Neferet
U nverhofft und erbarmungslos hatte das Bild in Zoey Redbirds mystischem Spiegel Neferet den Tod ihrer Unschuld vor Augen gehalten. Der Schock, sich wieder jenem gebrochenen, geschändeten Mädchen aus längst vergangenen Zeiten gegenüber zu sehen, hatte sie bis in die Grundfesten erschüttert, sie verwundbar für den Ansturm der abtrünnigen Kreatur gemacht, die ihr Gefäß gewesen war. Aurox hatte sie überrumpelt, mit den Hörnern durchbohrt und von der Dachterrasse ihrer Penthousesuite geschleudert. Als sie dort unten auf dem Asphalt zerschellte, war Neferet, einstige Hohepriesterin der Nyx, in der Tat gestorben. Doch während ihr sterbliches Herz aufhörte zu schlagen, hatte der Geist in ihr, jene unsterbliche Macht, durch die sie zur Königin der Tsi Sgili geworden war, die Herrschaft übernommen, hatte ihre zertrümmerte sterbliche Hülle aufgelöst, um zu leben …
zu leben
.
Tief unten zog sich die Masse aus Geist und Finsternis zusammen, verbarg sich, wartete … wartete … überlebte, während das Bewusstsein der Tsi Sgili einen bitteren Kampf darum ausfocht,
Weitere Kostenlose Bücher