Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
bestehen zu bleiben.
Denn das misshandelte Mädchen im Spiegel hatte eine Erinnerung geweckt, die Neferet längst totgeglaubt hatte – verschüttet – vergessen. Mit einer Gewalt, gegen die sie nicht im mindesten gewappnet war, war die Vergangenheit auf sie eingestürmt.
Und das Aufleben der Vergangenheit war Neferets Verderben.
Sie erinnerte sich. Sie war einst eine Tochter gewesen. Ein Kind namens Emily Wheiler. Sie war verletzlich gewesen, verzweifelt, und der Mensch, der Mann, dem es angestanden hätte, ihr treuester Beschützer zu sein, hatte sie belästigt, misshandelt und sich an ihr vergangen.
All die Jahrzehnte der Macht und Stärke, die Neferet wie einen Wall zwischen sich und jenem Missbrauch, jener geraubten Unschuld gezogen hatte, verflüchtigten sich in dem kurzen Moment, da Emilys Bild in dem Zauberspiegel aufflackerte. Verschwunden war die mächtige Hohepriesterin. Da war nur noch Emily, die den Trümmern ihres jungen Lebens gegenüberstand. Es war Emily, die von Aurox durchbohrt und auf den leeren Asphalt zu Füßen des Mayo-Hotel geschleudert wurde. Es war Emily, die Neferet mit in den Tod nahm.
Doch der Geist der Königin der Tsi Sgili überlebte.
Gewiss, ihr Körper war zerschmettert, ihr Bewusstsein in Stücken, doch während es sich nur mit Mühe ans Dasein klammerte, blieb die Energie, die Neferet Unsterblichkeit verlieh, bestehen. Die tröstlichen Fühler der Finsternis hießen sie willkommen und kräftigten sie, gewährten ihr zunächst, die Gestalt von Insekten anzunehmen, dann die von Schatten, dann von Nebel. Der Geist der Tsi Sgili trank Nacht und spie Tag aus, sank hinab in die Kanalisation von Tulsa und bewegte sich langsam, aber stetig in eine bestimmte Richtung. Was von Neferet blieb, verspürte den beharrlichen Drang, das Vertraute aufzusuchen – zu finden, was sie wieder zu einem Ganzen machen könnte.
Die Tsi Sgili spürte, wie sie die Grenze zwischen der Stadt und dem Ort überschritt, den sie besser kannte als alles andere. Dem Ort, der selbst ihrem körperlosen Geist vertraut war, ja diesen schon so viele Jahre unerbittlich anzog. In der Gestalt dicken, grauen Nebels betrat sie das House of Night. Von Schatten zu Schatten treibend, sog sie das Vertraute in sich ein.
Vor dem Tempel im Herzen der Schule scheute die Nebelgestalt zurück. Zwar waren Rauch und Schatten, Macht und Finsternis ebenso wenig in der Lage, Schmerz wahrzunehmen wie Freude, doch ein Reflex ließ die unheilvolle Energie der Tsi Sgili zurückschrecken, so wie ein abgehacktes Froschbein zuckt, wenn es die heiße Bratpfanne berührt.
Es war dieses unwillkürliche Zurückschrecken, das sie ihren Kurs ändern ließ und sie nahe an jenen Ort der Macht brachte, den sie sehr wohl wahrnahm. Mochte die Tsi Sgili weder Glück noch Schmerz kennen – was von Neferet übrig blieb, wusste, was Macht war. Sie würde immer wissen, was Macht war.
In klebrigen, öligen Tropfen sank sie in das Loch in der Erde ein. Sie absorbierte die Energie, die um sie herum begraben lag, und zog mit ihrer Hilfe das schemenhafte Echo dessen, was über ihr geschah, zu sich herab. So wäre die Tsi Sgili vielleicht noch lange geblieben – formlos, fühllos, reine Existenz –, hätte sich nicht der Tod genähert.
Unsichtbar zog er heran, wie ein Windstoß, der Wolken vor die Sonne treiben wird, doch die Tsi Sgili spürte seinen Hauch, noch ehe die Jungvampyrin zu husten begann.
Tod war der Tsi Sgili noch vertrauter als die Schule oder der Ort der Macht. Tod lockte sie aus ihrer unterirdischen Grube heraus. Im Taumel der Erregung nahm ihr Geist die erste Gestalt an, die ihr zu Beginn ihrer neuen Existenz möglich gewesen war – jene der unermüdlichen, unverfrorenen, unverwüstlichen achtbeinigen Krabbeltiere.
Von einem einzigen Willen getrieben, begannen alle schwarzen Spinnen auszuschwärmen, machten sich auf die Suche nach dem Tod, um sich von ihm zu nähren.
Ironischerweise war es der von den Jungvampyren beschworene Kreis, dessen Energiefluss es Neferet ermöglichte, genug von ihrem Bewusstsein wiederzugewinnen, um sich zu sammeln, sich der uralten Macht des Todes zu bedienen und sich schließlich selbst zu finden.
Ich bin jene, die Emily Wheiler war, dann Neferet und dann Tsi Sgili – Königin, Göttin, Unsterbliche!
Bis zu jenem Augenblick war es ihr einziges Bestreben gewesen, das Vertraute zu finden. Als der Tod über die Jungvampyrin herfiel, trank der Geist der Tsi Sgili ihn in tiefen Zügen, schöpfte
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