Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
jämmerlichen, unbehaglichen Waffenstillstand mit den Menschen einzuhalten. Im Geheimen machte Neferet sich daran, Ereignisse in Gang zu setzen, die das Verhältnis zwischen Menschen und Vampyren unwiederbringlich verändern sollten. Wie der Unsterbliche ihr in ihren Träumen gesagt hatte:
Warum beugen sich die Götter auf Erden jenen, denen es anstünde, sie zu verehren?
Den Verlust ihres Kriegers nutzte Neferet als willkommene Ausrede, um sich von der lästigen Arbeit als Lehrerin loszusagen und zu reisen. Immer, immer auf der Suche nach ihm, der ihre Träume erfüllte und sich ihr im Wachen entzog, lächelte Neferet still, als man begann, sie als Botschafterin der Nyx zu bezeichnen, deren Besuch jedes House of Night auf besondere Art auszeichnete.
Neferet betrachtete sich als Botschafterin der Macht.
Mit Hilfe ihrer empathischen Gabe fand sie heraus, für welche Hohepriesterin es wichtig, ja unentbehrlich war, dass man sie umschmeichelte oder herausforderte, sie lobte oder ihr drohte, sie bewunderte oder ignorierte, und dann beschaffte sie jeder, was diese brauchte: Informationen, eine heilende Berührung, höhere Einsichten, Zerstreuung … Die Liste der Wünsche und Begierden der Hohepriesterinnen war endlos. Und während Neferet ihnen ›diente‹, gewann sie in der Vampyrgesellschaft an Ansehen. Sie betrachtete sich als mächtiges, verführerisches Chamäleon. Sie lernte, jeder der Ihren stets als das zu erscheinen, was diese als besonders vertrauenswürdig, respektgebietend und schlussendlich anbetungswürdig betrachtete.
Und immer, immer fühlte Neferet sich ins Herzland der Nation gezogen, nach Oklahoma, wo die Erde die Farbe von Blut hatte, und insbesondere in die junge Stadt Tulsa, wo ihre Aufzeichnungen über ihre menschliche Vergangenheit begraben lagen und wohin Kalonas Träume, Einflüsterungen und Berührungen sie lockten.
Versuch, mich zu befreien … versuch, mich zu befreien …
erfüllte sein Wispern ihre Träume und beherrschte in subtiler Weise ihr Leben.
Es war am 22 . April 1927 , als das wohlhabende menschliche Ehepaar Waite und Genevieve Phillips eine große Gala veranstaltete, um die Fertigstellung ihrer Villa namens Philbrook zu feiern, und dazu auch die Vampyrhohepriesterinnen der Umgebung einlud. Neferet ließ es sich nicht nehmen, zu der Gala zu erscheinen. Nicht die Villa Philbrook interessierte sie und auch nicht das liberale, philanthropisch gesinnte Menschenehepaar und seine wohlhabenden Freunde aus den höchsten Gesellschaftskreisen.
Es war die Stadt, die Neferet interessierte, die Stadt, die nach Öl und Alkohol, Geld und Blut und Macht roch – oh ja, nach Macht.
Der Geruch der Macht – aus dem die Essenz ihrer Träume zu bestehen schien – war es, der Neferet der Feier den Rücken kehren und ziellos durch die Stadt wandern ließ. Die ganze Umgebung war von den neuerbauten Villen der Ölmagnaten übersät. Unsichtbar glitt Neferet an ihnen vorüber. Sie warf kaum einen Blick in die Fenster, nahm nur wenig Notiz von den Bleiglasscheiben und den elektrisch betriebenen Kandelabern, die wie Eiskristalle glitzerten. Nein, sie wandte sich von den glänzenden Villen ab, fortgelockt durch einen kleinen, plätschernden Bach, der flüsternd ein Lied nur für sie zu singen schien.
Und dann stand sie vor einem enormen Herrenhaus, das so plötzlich vor ihr auftauchte, als hätte es allein für sie Gestalt angenommen. Es stand inmitten eines makellos gepflegten, von verstreuten Eichen gezierten Parks. Neferet erinnerte sich noch genau, wie seltsam es gewesen war, dass vor dem Zufahrtsweg nur ein eisernes Tor stand, ohne eine Mauer, die es eingefasst hätte.
Dann sah sie das Schild und las, dass das wuchtige gemauerte Gebäude, das einem europäischen Herrenhaus oder gar Schloss nachempfunden war, eine Privatschule war.
Noch ehe sie die alte Frau fand, fühlte sie sich zu dem Anwesen hingezogen. Hellwach und aufmerksam betrat sie den Park. Es gab zwei Hauptgebäude, errichtet aus einem Stein von ganz einzigartiger Struktur. Alles wirkte noch neu, dunkel und unbewohnt. Und während sie das schlummernde Schulgelände durchwanderte, wurde das flüsternde Lied, das sie den ganzen Abend vernommen hatte, Wirklichkeit, und ihr Traum fügte sich zu einem greifbaren Bild zusammen.
Zuerst hörte sie das sonore Schlagen der Trommel. Neferet folgte ihm weit nach Osten zu einer Stelle ganz am Rand des Parks. Dort führte der Duft nach Salbei und Süßgras sie zu einer enormen Eiche, so
Weitere Kostenlose Bücher