Entfesselt: House of Night 11 (German Edition)
ausladend, dass sie das Licht des Lagerfeuers gänzlich abschirmte. Neferet bemerkte, dass auf den Ästen des Baumes viele Vögel saßen. Raben, sie erinnerte sich daran, wie ihr ganz nebenbei die Art der Vögel aufgefallen war. Seltsam, gewöhnlich sind Raben nachts nicht aktiv.
Sie ging um den Baum herum und erspähte das Lagerfeuer.
Da vibrierte die Lichtung von Trommelschlägen, und Neferet achtete nur noch auf die Alte. Diese kniete am Feuer, vor sich eine große Trommel, auf der sie mit dem einfachen, lederumwickelten Schlägel in ihrer Rechten einen Rhythmus schlug. In ihrer Linken hielt sie ein Beil. Alle paar Schläge hackte sie von einem langen, dicken gewundenen Strang aus Kräutern neben sich ein faustgroßes Stück ab und warf es ins Feuer, das die Kräuter zischend fraß und süß duftenden Rauch ausstieß.
Das Kleid der Frau war alt und vergilbt, aber von erstaunlicher Schönheit. Zarte Perlenstickerei glitzerte im Licht der Flammen, und die langen Fransen am Saum schwangen anmutig mit jedem Trommelschlag. Ihr Gesicht wirkte uralt, ihr zu einem dicken Zopf geflochtenes Haar wie pures Silber, doch ihre Stimme war so rein wie die eines Mädchens. Als sie zu singen begann, schlugen die Worte Neferet sofort in ihren Bann.
Uralter Schlaf, erwarte dein Erwachen …
Lautlos näherte sich Neferet der alten Frau, während das Lied im Takt ihres Herzschlags durch ihre Adern pulste.
Wenn Erdenmacht vergießet heilig Blut
Was Königin Tsi Sgili sann – das Mal getroffen –,
spült ihn nun aus dem Grab, wo er geruht.
Neferet trat in den Kreis des Feuers. Die Alte richtete ihre trüben Augen auf sie, die einst blau gewesen sein mochten. Ihr Gesang brach ab.
»Nein«, forderte Neferet sie auf. »Sing weiter. Es ist ein wunderschönes Lied.«
Die Frau blickte sie angespannt an, doch sie sang weiter:
Durch Hand der Toten wird er sich befreien,
grausame Schönheit, schreckliche Gestalt,
und beugen werden Weiber sich von neuem
ihm, der regiert mit finsterer Gewalt.
Süß klingt und mächtig Kalonas Weise –
Wir reißen die Beute mit glühendem Eise.
Kalona! Wie eine glühende Nadel durchfuhr sie der Name des Gottes. »Singe es noch einmal, alte Frau«, befahl sie.
»Ich bin fertig. Ich gehe.«
Die Alte wollte sich erheben, doch Neferet war schon bei ihr. Es war zu einfach, viel zu einfach, der Alten das Beil zu entreißen und ihr an die Kehle zu setzen.
»Tu, was ich sage, oder ich schlitze dir die Kehle auf und lasse dich hier liegen. Dann können die Vögel deine alten Knochen sauberpicken.«
Die alte Frau schloss die Augen und nahm einen tiefen, zitternden Atemzug. Und sie begann zu singen, wieder und wieder. Erst als Neferet das Lied auswendig kannte, erlaubte sie der Alten aufzuhören. Erst dann drang sie in deren Geist ein.
»Du nennst dich selbst eine Ghigua. Was ist das?«, verlangte sie zu wissen.
Die Augen der Alten weiteten sich. Sie antwortete nicht, doch ihr Geist war plötzlich von Schrecken und sonderbaren Worten erfüllt:
Ane li sgi, Dämon, Tsi Sgili, Seelenfresserin, Menschentöterin
. Worte wie Treibholz auf einer Woge von Furcht und Entsetzen.
Neferet lächelte, setzte sich neben die Alte und legte das Beil in die Lücke zwischen ihnen. »Du hast große Angst vor mir.«
»Du hörst, was in meinem Geist ist«, sagte die Frau.
»Nicht nur das«, sagte Neferet. »Dein Lied. Ich glaube, ich weiß, was es bedeutet.«
»Ich singe dieses Lied an jedem Neumond zur Warnung.«
»Oh natürlich, manchen ist es wohl eine Warnung. Für mich ist es ein Versprechen.« Neferet drang noch tiefer in den Geist der Alten ein. »Du fürchtest mich nicht deswegen, weil ich eine Vampyrin bin.«
»Vampyre ängstigen mich nicht.«
»Und doch fürchtest du mich. Und du singst von meinem Geliebten. Lass mich sehen, wie ging das Lied –
Was Königin Tsi Sgili sann – das Mal getroffen
. Sag mir, alte Frau, wer und was ist Königin Tsi Sgili?«
Du bist es, Dämon! Die sich in Schmerz suhlt! Die sich von Tod nährt!
, tönte es aus dem Geist der Frau anklagend zu Neferet herüber, doch die Greisin sagte nur: »Ich habe für eine Nacht genug gesprochen. Ich werde nun schweigen.« Und sie presste ihre Lippen zu einer dünnen, starrsinnigen Linie zusammen.
Neferet lächelte sie seidenglatt an. »Ah, aber es ist nicht nötig, dass du in Worten zu mir sprichst. Dein Geist schreit laut genug. Ich kann alles, was ich brauche, von dir erfahren, ohne dass du auch nur eine Silbe von dir gibst, alte
Weitere Kostenlose Bücher