Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
die mir eingefallen ist. Ehrlich gesagt hatte ich schon gestern Abend große Lust, Sie anzurufen. Ich habe Sie nämlich im Vorbeigehen mit Ihrem Kollegen im Bœuf-Couronné gesehen. Aber da gab es noch keinen sinnvollen Grund. Also … na gut, ich wollte eben einfach Ihre Stimme hören.«
»Sie haben mich also gestern Abend gesehen und hatten Lust, mich anzurufen, weil Sie meine Stimme hören wollten? Flirten Sie etwa mit mir? Und könnte es sein, dass Sie nicht allzu oft Frauen anrufen, um ihnen solche Dinge zu sagen?«
»Niemals. Das habe ich noch nie gemacht. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie gestört habe, aber … ich weiß nicht – es kam einfach so über mich. Ich musste es tun.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Ahmed. Sich zu entschuldigen ist immer falsch. Und es stört mich überhaupt nicht, dass Sie meine Stimme gern hören. Ganz und gar nicht. Allerdings ermittele ich gerade in einem Mordfall, und Sie sind – wie soll ich sagen? – einer der wichtigsten Zeugen in dieser Sache.«
»Ja natürlich. Okay, ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich wieder zur Analyse gehe, und weil ich die Sitzungen dieses Mal selbst bezahlen muss, werde ich wieder anfangen zu arbeiten. In der Buchhandlung von Monsieur Paul. Ich wollte es mich einmal sagen hören. Damit es Wirklichkeit wird, verstehen Sie? Ich weiß nicht, ob Sie das kennen.«
»Oh ja, sehr gut sogar. Und ich finde es toll. Die Analyse und Monsieur Paul, meine ich. Hören Sie, ich muss jetzt los, aber rufen Sie mich ruhig wieder an, okay? Um mir von Monsieur Paul oder sonst was zu erzählen. Und vergessen Sie nicht, dass ich wirklich unbedingt Lauras Mörder fassen will. Wenn Ihnen also etwas einfällt, das uns weiterbringt, bin ich eine dankbare Abnehmerin der Information. Abgemacht?«
Ahmed fühlt sich versucht, ihr von dem Zwischenfall mit Moktar zu berichten. Nur um ein wenig länger mit ihr telefonieren zu können, ihre Stimme zu hören und ihren Atem zu spüren. Aber lieber nicht. Es ist zu gefährlich. Die Tatsache, dass er Moktars Beleidigung mit Bezug zu Schweinen Bedeutung beimisst, könnte nahelegen, dass er den Schweinebraten in Lauras Wohnung gesehen hat. Das ist zu gefährlich, denn davon wissen nur der Mörder und die Polizei.
»Ich will auch, dass er gefasst wird. Dafür würde ich alles tun. Sobald ich etwas weiß, informiere ich Sie, versprochen! Einen schönen Tag, Lieutenant Kupferstein.«
»Ihnen auch einen schönen Tag, Monsieur Taroudant.«
Auf dem Weg zur Buchhandlung denkt Ahmed über das Gespräch nach. Vor allem über das Ende. »Einen schönen Tag, Lieutenant Kupferstein. Ihnen auch einen schönen Tag, Monsieur Taroudant.« Toll. Einfach nur toll. Er wünscht sich, ihr beim nächsten Mal etwas wirklich Wichtiges sagen zu können. Etwas, das die Ermittlung voranbringt, ohne ihn selbst zu gefährden. Und das ein Treffen rechtfertigen würde.
19
Chaim Potok Highschool, vierzehn Monate vorher
Mindestens einmal in der Woche besucht Susan Dov in dem Chemielabor, das er im jüdischen Gymnasium von Queens herrichtet und das so charmant an die 1960er Jahre erinnert. Rabbi Toledano hat ihm den Job übergangsweise besorgt. In den vergangenen Monaten hat Susan viel über Dov erfahren und bei jedem Treffen einige der vorhandenen Löcher in seiner Biografie stopfen können. Sie haben zum Beispiel über seine Haftstrafe gesprochen, nachdem er in seinem Labor in Harvard den Wirkstoff MDMA hergestellt und kostenlos an einige Kommilitonen verteilt hatte. Das war insofern nicht gerade unbemerkt abgelaufen, als sich die Droge des angehenden Chemikers als extrem wirksam erwies. Im Gefängnis hatte Dov sehr schnell lernen müssen, dass ein intellektueller und obendrein noch etwas pummeliger Rasta-Jude gegenüber denen, die für den Erhalt der Ordnung zuständig waren, einen schweren Stand hat – darunter vor allem die Schwarzen- und Latinogangs, und manchmal auch die eine oder andere italienische Familie, der es gelang, der Ablösung durch die Farbigen zu trotzen. Es gab Rempeleien, Prügeleien, Drohungen. Seine Zukunft hätte unweigerlich auch aus einer langen Folge von Erniedrigungen bestanden, deren Beginn in Form einer gemeinsamen Vergewaltigung unter der Dusche erfolgen sollte, die man ihm für den Donnerstag nach seiner Einlieferung in Aussicht gestellt hatte. Aber im Gefängnis bleibt nichts lange geheim. Albert Bénamou, ein Autodieb aus Toronto, hatte Wind von dem Ärger bekommen, der dem neuen Häftling, einem hilflosen,
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