Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Dann starb sie. Das Ganze dauerte höchstens fünfzehn Sekunden. Ich meine die Zeit, in der ich unglücklicherweise zugesehen hatte. Ich duckte mich und lauschte. An den Geräuschen konnte ich erkennen, was der Mörder gerade tat. Er zog seine Hose mit einem zufriedenen Grunzen hoch, lud sich die Frau wie einen Sack Zement auf die Schultern und verschwand mit schweren Schritten. Die Tür fiel ins Schloss, die Schritte entfernten sich. Ich blieb wie gelähmt noch gut drei Minuten auf meinem Schemel stehen und hörte, wie ein Motor angelassen wurde und ein Wagen sich entfernte. Ein Dieselfahrzeug. Bis heute bin ich überzeugt davon, dass der Mörder Taxifahrer war. Und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, bin ich sicher, dass ich ihn wiedererkennen würde, sollten er und ich je das Pech haben, uns einmal von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Das war eigentlich alles. Auf dem Sofa konnte ich nicht die geringste Spur entdecken. Scheißplastik! Ganz schön widerstandsfähig, das Zeug. Als wäre nie etwas geschehen. Ich versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass ich nichts gesehen hatte. Gesagt habe ich auch nichts. Ich verfiel in absolute Untätigkeit, die allerdings ganz und gar nichts mit dem Zen-Ansatz zu tun hatte. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. In den nächsten Nächten auch nicht. Der Blick der jungen Frau war in mich eingedrungen, als wolle er mich nie mehr loslassen. Ich war für ihren Tod verantwortlich. Und wollen Sie wissen, woran ich in diesem Augenblick gedacht habe? An Melody Nelson. Zur Musik von Melody Nelson hätte ich mich nämlich beinahe entjungfern lassen. Aber nur beinahe. Das Mädchen war einverstanden, und ich hatte meinen Finger in ihr. Ich habe sie nicht einmal ausgezogen und wusste nicht, was ich machen sollte. Nach einiger Zeit war sie das Warten leid und stand auf. Dann sind wir gegangen. Und zwei Jahre später fiel es mir wieder ein …«
»Melody …«
»Ja, genau. Melody.«
»Sprechen wir darüber beim nächsten Mal?«
Ahmed richtet sich auf und bleibt am Rand der Couch sitzen. Seine Gedanken sind verwirrt, wie nach einem Traum. Das nächste Mal. Ja.
»Ich habe übrigens nachgedacht. Ich weiß, dass Sie von staatlicher Unterstützung leben. Was halten Sie von zwanzig Euro pro Sitzung und zwei Terminen pro Woche?«
»Ehrlich gesagt muss ich erst einmal nachrechnen. Aber ich glaube, dazu fehlen mir die Mittel.«
»Nun, Sie können sich die nötigen Mittel doch vielleicht besorgen.«
Ahmed antwortet nicht.
»Kommen Sie am Montag um acht Uhr dreißig. Denken Sie bis dahin darüber nach.«
Handschlag. Vorhang.
17
Es ist schon halb zehn. Jean kommt ins Büro. Er fühlt sich erstaunlich glücklich. Nach dem Tsingtao war er nach Hause gegangen. In eine der preiswerten Wohnsiedlungen im Randbereich von Paris. Roter Backstein. Wieder einmal bedrückte ihn das hässliche, morbide Viertel, in dem Hass und Selbsthass regieren. Als er seine Zwei-Zimmer-Wohnung betrat, wurde ihm plötzlich mit aller Deutlichkeit bewusst, dass er unbedingt umziehen muss. Der Gedanke wirkte wie ein Befreiungsschlag. Nein, er wird sich nicht mehr nur schüchtern zurückziehen, sondern gleich mit Rachel darüber sprechen. Sie wird Kontakt zu einem ihrer Verflossenen herstellen, einem Furcht erregenden Immobilienmakler. Der Entschluss verschaffte ihm eine derart große Erleichterung, dass er wie ein glückliches Baby einschlief. Beim Aufwachen fiel ihm ein, dass er einmal eine Kassette von 75-Zorro-19 aus dem Jahr 2000 besessen hat. Auf dem Cover waren Lauras Freunde unter einem Scheinwerfer abgebildet. Und in seinem alten MP3-Player existiert sogar noch immer der bekannteste Hit aus dem Album.
Um halb sieben trifft er sich mit Dr. Germain. Aber was soll er bis dahin machen? Ahmed einen weiteren Besuch abstatten? Ob die Freundinnen von Laura, die Schwarze und die Araberin, sich wohl bei Rachel gemeldet haben? Haben sie sich vielleicht sogar noch getroffen? Bisher hat er jedenfalls noch keine SMS von Rachel bekommen. Was aber nichts zu bedeuten hat. Am besten, er beginnt erst einmal ganz gemütlich mit einem Kaffee. Wenn Rachel bis zehn Uhr noch nicht da ist, ruft er sie an. Am Kaffeeautomaten trifft er Mercator, der gerade Kleingeld für einen Espresso einwirft. Ohne sich umzudrehen, fragt der Boss:
»Schwarz mit Zucker, Hamelot?«
»Ja, Chef. Wie immer.«
Rattern, Kaffee, Zucker, Holzstäbchen. Mercator nimmt beide Becher und geht in sein Büro. Jean folgt ihm. Sie setzen sich
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