Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
Vom Netzwerk:
gegenüber. Der Schreibtisch ist sauber und leer bis auf einen Stapel jungfräuliches Papier. C von Clairefontaine.
    »Ich weiß, dass Sie bis über beide Ohren in dieser Ermittlung stecken, und genau das wollte ich. Eintauchen in die Wirren der Religionen. In den Wahn der Gläubigen. Oder vielleicht eher derjenigen, die ihre Risse und ihre innere Leere mit dem Zement der Sicherheit abzudichten versuchen. Wenn alles gut verspachtelt ist, kann man getrost weiterleben. Alles in Butter, wie es so schön bei Godard heißt. Dem ist nichts hinzuzufügen; Kupferstein und Sie wissen schon, wie und was zu tun ist. Allerdings gibt es eine Kleinigkeit, die mir seit heute Morgen Kopfzerbrechen bereitet. Ein Anruf aus dem Achtzehnten. Mein geschätzter Kollege, Commissaire Frédéric Enkell, hat von seinen Informanten angeblich keinerlei Hinweise zu der Telefonzelle in der Rue Ordener bekommen. Wörtlich sagte er: ›Nein, Mercator, niemand hat etwas gesehen. Ganz sicher.‹ Zur bewussten Zeit hat also niemand gesehen, ob von der Zelle aus telefoniert wurde. Na ja, warum auch nicht? Seine Informanten müssen schließlich nicht rund um die Uhr aufmerksam sein. Trotzdem war mir klar, dass er lügt. Merkwürdig, wie deutlich die Lüge zu hören war. Und ich sage Ihnen, Hamelot, das kommt daher, dass es ihm völlig schnurz ist, ob er mich anlügt. Er geht einfach davon aus, dass ich ihm glaube – weil er auch Polizist ist, nehme ich an. Aus Kastendenken. Ich weiß nicht, ob Ihnen schon einmal aufgefallen ist, dass Leute sehr schlecht lügen, wenn sie ein gewisses Maß an Macht haben. Dreistes Lügen gehört offenbar zu den Vorteilen einer Vormachtstellung. Und dabei scheint den Kerlen wirklich einer abzugehen, wenn Sie den Ausdruck gestatten. Im vorliegenden Fall allerdings ist die Lüge Gold wert, weil sie uns auf eine Spur verweist. Die wir natürlich sehr diskret verfolgen werden. Sie kennen nicht zufällig einen vertrauenswürdigen Kollegen im 18. Arrondissement?«
    »Leider nein, Chef. Das Revier im Achtzehnten ist ziemlich undurchsichtig. Die rechte Hand von Enkell ist noch immer Benamer, oder?«
    Mercator blickt auf und verliert sich in Bildern, die nur für ihn allein sichtbar sind. Jean vermutet seinen Chef in einer tiefen Meditation, als dieser plötzlich sagt:
    »Erinnern Sie sich an van Holden?«
    »Ihren Vorgänger?«
    »Genau der. Er sitzt inzwischen im obersten Kontrollgremium der Polizei. Über ihn ist der Commissaire Divisionnaire von Saint-Denis gestolpert – Sie wissen doch, der Typ, der ein paar Polizisten gedeckt hat, die sich als Erpresser versucht und an der Porte de la Chapelle Prostituierte vergewaltigt haben. Eine Bande bösartiger Dummköpfe. Van Holden hat sich Zeit genommen und einen nach dem anderen dingfest gemacht. Enkell allerdings ist alles andere als ein Dummkopf. Und Benamer ebenso wenig. Das Böse existiert, Hamelot. Und nur allzu oft organisiert es sich. Das Böse, Hamelot. Haben Sie verstanden?«
    Seine Worte kommen wie aus einem Traum.
    »Enkell. ›Niemand hat etwas gesehen. Ganz sicher.‹ In dieser Aussage, über diesem ›Ganz sicher‹ lag der Geruch des Todes …«
    Mercator bricht ab. Seine Augen verlassen die Wand, auf der sich mit Sicherheit Gestalten bewegen, die für andere Sterbliche unsichtbar sind, streifen seinen Untergebenen und heften sich dann auf den Papierstapel. Auf dem Schreibtisch dampfen nach wie vor die beiden Becher. Ohne den Kopf zu heben, sagt Mercator:
    »Vergessen Sie Ihren Kaffee nicht.«
    Nachdenklich kehrt Jean in sein Büro zurück. Unterwegs rührt er mechanisch in seinem Plastikbecher.
    Während er über Mercators Worte nachdenkt, wird ihm der unmenschliche Charakter der Arbeitsfabrik bewusst, durch die er sich bewegt. Hier sieht es aus wie in den Ausstellungsräumen von Ikea. Er erinnert sich an einen Spruch von Rachel:
    »Ouphilantropon. Laut Aristoteles ist es das Nichtmenschliche, das, was sich dem Menschen entgegenstellt. Wie ein mathematischer Begriff, wie Null oder Unendlich. 1/Unendlich=0. Und umgekehrt.«
    Er muss hier raus. Und zwar schnell. Kontakt zu Gleichgesinnten herstellen. Auf der Toilette lässt er seinen unangetasteten Becher auf dem Handtrockner stehen, geht pinkeln, wäscht sich die Hände und trocknet sie beim Hinausgehen am Hosenboden ab. Dann ruft er an.
    »Rachel? Schläfst du noch? Wie wäre es mit einem Turtelfrühstück bei Le Gastelier? Okay?«
    Rachel klingt verschlafen.
    »Gib mir vierzig Minuten, um mich einigermaßen

Weitere Kostenlose Bücher