Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Spiegel und reißt sich zusammen.
»Okay, ich denke, es ist gut so. Schöner Schnitt, vielen Dank.«
»So warte doch. Ich muss dir noch den Nacken ausrasieren.«
Ahmeds Stimme klingt noch immer verändert. Gerade so viel, dass der Frisör glauben kann, seine Beute sicher in der Hand zu halten. Ahmed steht auf, ohne Sam Zeit für eine Reaktion zu geben.
»Schon gut, es geht auch so. Tschüss dann. Ich komme wieder, sobald sie nachgewachsen sind.«
»Auf Wiedersehen, mein Sohn. Und vergiss nicht – wenn du Probleme hast, kannst du jederzeit zu mir kommen. Und wenn du das Gefühl hast, eine Dummheit begangen zu haben … Du weißt ja, dein guter alter Papi Sam ist immer für dich da. Ich kenne viele Leute. Leute, die dir von Nutzen sein können. Sogar Polizisten sind darunter … Also, salma ya walid … Barikallah ou fik .«
Verstört und schweißgebadet bezahlt Ahmed, überlässt Sam seiner Grübelei, nicht ein bisschen zu viel gesagt zu haben, und verschwindet, ohne sein Wechselgeld abzuwarten. Er muss sich bewegen, um ins Leben zurückzufinden. In den Parc de la Villette mit den Rastas und den Joggern. Und den Telefonzellen.
26
Avenue C, Alphabet City, Manhattan, drei Monate früher
Außer Atem. Vincenzo Vignola öffnet den Mund und schließt ihn wieder, ohne dass es ihm gelingt, Luft zu schöpfen. Sein Becken scheint ein wütendes Eigenleben zu führen, als er sich in seine Partnerin ergießt. Seine Haut ist rau und faltig. Nachdem er sich auf die mit einem grün gestreiften Laken bedeckte Matratze hat sinken lassen und versucht, wieder zu Atem zu kommen, betrachtet Susan nachdenklich sein Gesicht. So sind sie nun mal, die alternden Schönlinge, denkt sie. Angezogen sehen sie ja noch ganz passabel aus, aber nackt … Trotzdem macht es ihr Spaß, mit ihm zu schlafen. Es ist ein Gefühl, das ihr Flügel verleiht und sie bewegt. Natürlich hat diese Euphorie auch mit dem Wunsch zu tun, ihn abstürzen zu lassen, aber nicht nur. Es ist auch die zerbrechliche Menschlichkeit, die er an den Tag legt, wenn er kommt – diese letzte Hingabe, die ihn jedes Mal bis an die Grenzen seines Lebens zu führen scheint. Während des Aktes denkt er niemals an sie. Das fasziniert sie und verschafft ihr die Freiheit, immer wieder neue Dinge an ihm zu beobachten, während er sich in der Missionarsstellung auf ihr abmüht: seinen faltigen Hals, den Schweißtropfen, der sich auf seiner Oberlippe bildet und schließlich auf sein Kinn tropft, ein graues Haar, das aus seinem rechten Ohr wächst, den hellen Fleck unmittelbar unter seiner linken Brustwarze. All diese Bilder erscheinen ihr rein und sinnvoll, und sie nimmt sie sehr entspannt wahr – dem Gras aus Jamaika sei dank. Dov hat es ihr am Morgen vorbeigebracht.
Sie hatten sich einen Joint geteilt, nebeneinander am Fenster gelehnt und über die Stadt und die Welt hinweggeblickt. Dov hatte großen Redebedarf gehabt. Er war besorgt und beunruhigt. Eigentlich hätte er in drei Tagen nach Paris fliegen sollen. Aber der Rebbe hatte ihm mitgeteilt, dass seine Verlobung auf unbestimmte Zeit verschoben worden sei. Toledanos Erklärungen waren schwammig. Als Dov sich jedoch ein wenig umgehört und sich den vor kurzem aus Paris eingetroffenen Sholem Aboulafia vorgeknöpft hatte, erfuhr er schließlich, dass seine zukünftige Verlobte verschwunden war, dass ihre Familie jedoch alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um sie zu finden. In ihm wuchs das Gefühl, dass an dieser Geschichte etwas stank. Wenn die junge Frau ihn tatsächlich so gerne heiraten wollte, wieso lief sie dann fort? Dov hatte immer weniger Lust auf diese Hochzeit. Zwar liebte er den Rebbe, einen der tiefgründigsten und spirituellsten Menschen, die ihm je begegnet waren, doch Toledanos Absicht, ihm ein Mädchen zur Frau zu geben, das ihn gar nicht haben wollte, verstörte ihn zutiefst. Er hatte ein Foto aus seiner Brieftasche genommen und halblaut den Namen seiner Braut ausgesprochen: »Rébecca.« Schweigend hatte Susan das Bild der schönen, ernsten, jungen Frau in ihrer chassidischen Kleidung betrachtet. Sie wirkte fast ein wenig finster.
»Ich weiß nicht recht, aber mit diesem Foto stimmt irgendetwas nicht. Sie wirkt so anders als die jungen Frauen, die in Crown Heights herumlaufen. Als ob sie eine Rolle spielt. Man kann beim besten Willen nicht sagen, was in ihrem Kopf vorgeht. Sprich mit Toledano. Sag ihm, dass du nicht mehr heiraten willst. Dass es für dich nicht schlimm ist. Weil nur der Rebbe für dich zählt
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