Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Ich könnte nie und nimmer als Zeuge gegen Ahmed aussagen. Er gehört sozusagen zur Familie, wenn Sie verstehen.«
Jean wirft Rachel einen fragenden Blick zu. Sie schließt die Augen und nickt unmerklich.
»Worum geht es?«
»Vor zwei Monaten, als Ahmed sich das letzte Mal von mir die Haare schneiden ließ, saß er hier in diesem Stuhl. Laura kam in ihrer Uniform vorbei. Er sah sie im Spiegel. Sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck, als ob er Schmerzen hätte. Und ich glaube, er hat ganz leise ihren Namen gesagt, aber da bin ich mir nicht ganz sicher. Sehen Sie, das ist nichts Großartiges, aber ich wollte es Ihnen doch lieber sagen. Man weiß ja nie. Er war übrigens heute Morgen zufällig auch hier. Sind Sie ihm nicht begegnet? Er war höchstens drei Minuten fort, als Sie kamen.«
»Hat er noch einmal von Laura gesprochen?«
»Ich selbst habe davon angefangen und ihn gefragt, ob er sich nach diesem Mord in der Etage über ihm okay fühlt. Er hat nicht darauf geantwortet, aber er kam mir ziemlich bedrückt vor. Als wäre ihm unbehaglich zumute. Nun ja, er hätte ja auch wirklich allen Grund dazu. Ein solches Verbrechen ist schließlich immer ein Schock.«
»Ja, da haben Sie wohl recht. Sam, Sie kennen Ahmed doch seit seiner Kindheit. Halten Sie ihn für fähig …«
»Nein, um Himmels willen! Das wollte ich damit nicht sagen. Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Zumindest nicht im Normalzustand. Aber warum ist er eigentlich eingewiesen worden? Ich habe es nie erfahren. Erst seine Mutter, dann er … Irgendetwas stimmt mit dieser Familie nicht …«
Rachel nimmt unterdessen den Frisiersalon unter die Lupe. Eine kleine Lampe zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Art déco, geschmiedetes Eisen, wassergrünes Glas. Sie unterbricht Sams Wortschwall.
»Merkwürdig, nach genau so einer Lampe suche ich gerade. Darf ich fragen, wo Sie die herhaben?«
Der Frisör, der sich bis dahin sehr gut unter Kontrolle hatte, kann seine Hand nicht daran hindern, nach dem etwas fadenscheinigen Kragen seines Westernhemdes zu greifen und daran herumzufingern.
»Äh … das weiß ich nicht mehr. Ich habe sie schon eine ganze Weile. Wahrscheinlich … also, ich glaube, sie stammt vom Flohmarkt.« Er beruhigt sich. »Tut mir leid, aber ich habe es aufgegeben, nach Antiquitäten zu suchen, und wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, etwas Ähnliches zu finden.« Er wendet sich wieder an Jean. »Am besten, Sie vergessen, was ich Ihnen gesagt habe. Es ist eine aus dem Zusammenhang gerissene Erinnerung. Der arme Ahmed wäre nie und nimmer in der Lage, ein solches Verbrechen zu begehen. Ich hoffe, dass Sie den Mörder bald finden. So etwas hier im Viertel – das ist schon ziemlich schrecklich.«
»Schrecklich. Sie sagen es. Auf Wiedersehen, Sam. Vielleicht kommen wir bei Gelegenheit noch einmal auf Sie zu. Möglicherweise erinnern Sie sich ja noch an andere Dinge …«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Inspecteur. Und Shabbat Shalom .«
Der religiöse Gruß des Frisörs klingt wie ein brüchiger Glockenton. Sie haben kaum den Salon verlassen, als Rachel noch etwas einfällt. Sie steckt den Kopf durch den Türspalt.
»Seit 1995 sagt man übrigens ›Lieutenant‹, Sam. Nur Colombo lässt sich noch ›Inspector‹ nennen. Shabbat Shalom! «
Hinter der nächsten Straßenecke wendet Jean sich an seine Kollegin.
»So ein falscher Mistkerl! Was sollte denn diese Geschichte mit Ahmed? Was will er uns einreden?«
»Er versucht, uns einen Verdächtigen auf dem Präsentierteller zu servieren. Die Frage ist nur, warum er das tut. Wen will er damit decken? Was verbirgt er vor uns? Und was haben die Frauen mir verschwiegen? Wir können mit der Antwort nicht bis heute Nacht warten. Es ist jetzt Viertel vor zwölf. Um drei treffe ich mich mit dem ehemaligen Zeugen Jehovas. Ich glaube, ich rufe die beiden Damen jetzt sofort an und versuche, mich mit ihnen zu treffen. Allerdings halte ich es für sinnvoller, allein zu gehen.«
»Kein Problem. Was Ahmed betrifft: Meinst du, wir können diese nebulöse Anschuldigung ignorieren?«
»Du triffst dich doch heute Abend mit seinem Seelendoktor. Wir machen unsere Reaktion abhängig von dem, was er dir erzählt. Eine falsche Spur können wir jetzt absolut nicht brauchen. Je länger das dauert, desto mehr habe ich das Gefühl, dass wir uns in einem Wettlauf gegen die Zeit befinden.«
Rachel will gerade ihr Handy aus der Tasche ziehen, als Jean etwas einfällt.
»Ehe ich es
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