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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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Zeit, seine Angelegenheiten zu regeln und für immer das einzige Land zu verlassen, in dem er je gelebt hatte. Er war nicht reich, er arbeitete für reiche Leute. Seine mageren Ersparnisse reichten gerade aus, eine kleine Schneiderei in der Rue Riquet zu eröffnen. Kaum hatte er sich niedergelassen, als ihm der Aufschwung des Prêt-à-porter einen weiteren Schlag versetzte.
    »Verstehst du, Sam, den Sechs-Tage-Krieg habe ich ja noch einigermaßen überlebt. Ich war ja auch nicht schuld. Ich bin weder Ägypter noch Israeli, sondern Franzose. Damals hatte ich zwar keine Ahnung, dass ich Franzose bin, aber … maalesh , wenn ich mir anschaue, was danach so alles passiert ist, bin ich ganz froh, dass ich die Gegend da unten verlassen habe. Da wohnen doch nur Irre. Aber mein persönlicher Sechs-Tage-Krieg, der mir endgültig den Rest gegeben hat, ist dieses verdammte Prêt-à-porter. Weißt du, Alter, das ist schlimmer als Panzer und Bomben, schlimmer als alles andere. Es ist eine unaufhaltsame Maschinerie. Stell dir mal vor: Maschinen, die deine Arbeit machen! Stell es dir bloß mal vor, Sam, ya sahabi! Es gibt Maschinen, die mit Laserstrahlen Schnittmuster ausschneiden. So etwas kann man sicher auch mit Frisuren von Menschen machen. Was würdest du machen, wenn man so etwas eines Tages überall aufstellen würde? Im Monoprix zum Beispiel, gleich neben dem Fotoautomaten und dem Kopierer, gäbe es dann eine Maschine mit allen Schnitten, die zu deinem Kopf passen. Du suchst dir einen aus, und danach läuft alles vollautomatisch ab. Du sitzt in dem Ding und kannst dir sogar die Musik aussuchen, die du dabei hören willst. Irgendwas von Dalida, Maurice El Medioni, Enrico Macias, Lilo Boniche – einfach alles. Was würdest du machen, wenn es eines Tages so weit wäre?«
    »Im Moment wäre es mir egal, Albert, ya khouya! In einem Jahr gehe ich sowieso in Rente, und mein Sohn Sholem ist schon seit Langem in Brooklyn an der Talmudhochschule von Toledano – du weißt schon, dem Cousin unseres Rabbis, der sich von seiner Gemeinde gerade zum Rebbe hat proklamieren lassen. Mein Sholem wird also Rabbi und kein Frisör. Und ganz ehrlich: Was könnte ich mehr von Gott erbitten?«
    »Gott? Na ja. Weißt du, mein Sechs-Tage-Krieg gegen das Prêt-à-porter hat mich zu Boden geworfen, und ich habe beschlossen, nicht wieder aufzustehen. Der französische Staat ist großzügig …«
    »Und der Sozialfonds der Juden ebenfalls. Und wir, die wir arbeiten, müssen für deine Untätigkeit bezahlen. Aber das ist nicht schlimm. Immerhin lässt du dir bei mir die Haare schneiden und bringst mir auf diese Weise einen Teil meiner Ausgaben zurück. Das macht sieben Euro fünfzig.«
    Mit einer knappen Geste nimmt Sam Albert den Umhang ab. Albert steht auf, bezahlt und wird von Sam bis zur Tür begleitet, wo sie sich mit Handschlag verabschieden.
    »Shabbat shalom!«
    »Stimmt ja, heute Abend fängt der Sabbat an. Das hätte ich beinahe vergessen. Gut, dass du mich erinnerst.«
    »Als wärest du nicht deswegen gekommen. Als würdest du alter Ungläubiger nicht in die Synagoge gehen und dich vor dem Rabbi und den frommen Juden spreizen, die dir aus der Patsche helfen. Ach ja, die ägyptischen Juden. Wir marokkanischen Juden sind in euren Augen vielleicht Wilde, aber ihr – ihr seid verdammte Schlitzohren. Also Bruder, bis heute Abend. Genug geschwatzt, jetzt ist mein Sohn Ahmed an der Reihe. Unsere Alt-Männer-Geschichten langweilen ihn sicher schon längst. Komm, mein Sohn, lass dich von deinem alten Vater frisieren.«
    Sams Ton klingt irgendwie falsch. Während der Frisör die Tür hinter Albert schließt, steht Ahmed nachdenklich auf. Ihm ist plötzlich der Titel eines Buches eingefallen, dass bei Dr. Germain herumliegt. Der perverse Betrug . Sam, der Perverse. Sam, der auf Laura losgeht oder vielleicht lieber doch nur dabei zuschaut, während ein anderer die Drecksarbeit macht. Ahmed kann sich die Szene mühelos vorstellen. Ein leerer Raum – vielleicht eine Lagerhalle –, der Rücken des Metzgers bei der Arbeit und die geknebelte Laura mit gespreizten, irgendwo festgebundenen Beinen. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Entsetzen. Nicht so wie in japanischen Bondage-Comics, sondern echtes Entsetzen aus der Tiefe der menschlichen Seele. Wie bei Dante oder Pasolini. Sam steht leicht seitlich, auf seinem Gesicht spiegelt sich Erregung. Plötzlich scheint der Metzger sich umdrehen zu wollen. Schnell blinzelt Ahmed, um die Erscheinung zu vertreiben.

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