Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
müssen. Jean dreht und wendet imaginäre Karten in seinem Kopf. Er mischt und verteilt sie. »Haqiqi, Mourad, Moktar, Alpha, Ruben …« Ihm fällt nicht einmal auf, dass er die Namen laut ausgesprochen hat. Rachel hört ihm schweigend zu, ehe sie hinzufügt: »Und Sam.«
»Ja, auch Sam«, fährt sie fort. »Beinahe hätte ich den wichtigsten Teil meiner Unterhaltung mit den beiden Frauen vergessen. Kurz bevor sie auflegte, hat Aïcha den Namen des Frisörs erwähnt. Einfach so, aus dem Nichts, sie meinte nur, wir sollten uns mal intensiver mit ihm beschäftigen. Ich habe mich noch vergewissert, dass sie wirklich den Frisör aus dem Viertel meint, und sie hat das bestätigt, ist aber nicht weiter darauf eingegangen. Mir war allerdings schon klar, dass das nicht einfach so dahingesagt war. Also nichts wie hin.«
Wenige Minuten später betreten Rachel und Jean den Frisiersalon. Sam raucht ein Zigarillo Café Crème. Er sieht die beiden Polizisten eintreten. Er kennt sie, seit sie wegen eines Diebstahls in einer der Nachbarstraßen ermittelt und ihn befragt haben. Frisöre haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Hausmeistern: Sie hören alles. Jean und Rachel müssen intelligent vorgehen, denn Sam darf nicht mal ahnen, dass er möglicherweise zum Kreis der Verdächtigen gehört. Wessen er verdächtigt wird, wissen sie allerdings selbst noch nicht. Also wieder einmal ein kleiner Routinebesuch. Jean will sich vorsichtig herantasten, doch Sam kommt ihm zuvor.
»Guten Tag, Lieutenant. Darf ich raten? Sie kommen wegen des Mordes an dieser Kleinen. Laura, nicht wahr? Sie wissen schließlich auch, dass wir Frisöre immer gut informiert sind. Habe ich recht?«
»Absolut. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.«
Rachel hält sich zurück. Sie überlässt es Jean, den Juden auszufragen, und beobachtet jedes Detail und jede Reaktion. Sam spielt seine Rolle geradezu perfekt. Das gut geölte Räderwerk des servilen und etwas großmäuligen Sepharden hakt an keiner Stelle. Doch schon ein Wimpernschlag oder eine kleine Geste – eine zuckende Schulter, ein Zeigefinger, der an der Schläfe kratzt, ein Daumen, der sich in die Gürtelschlaufe einhängt – lassen bei der Polizistin die Alarmglocken läuten. Natürlich tut sie so, als hätte sie nichts gesehen. Sie lässt ihren Blick und ihre Gedanken umherstreifen, während ihr Kollege das Reden übernimmt.
»Also – Laura Vignola. Was wissen Sie über sie?«
»Eine bildhübsche junge Frau. Wirklich wahr. Sie kam immer in ihrer blitzsauberen Uniform mit ihrem Rollenköfferchen hier vorbei. Sie war nicht eingebildet und fuhr immer mit der Bahn zur Arbeit. Ein toller Job – im Gegensatz zu uns anderen Sterblichen arbeitete sie im Himmel. Über ihr übriges Leben weiß ich allerdings überhaupt nichts. Wissen Sie, ich bin Herrenfrisör. Ich schneide hauptsächlich alten Juden die Haare. Junge Schicksen sind nicht mein Fachgebiet …«
Sam schweigt betont ein ganz kleines bisschen zu lang. Wie in einem Roman von Simenon. Jean tut so, als würde er es nicht merken, so lauten die Spielregeln.
»Wirklich gar nichts, Sam? Auch nichts völlig Belangloses oder etwas, das Sie von einem Kunden gehört haben? In diesem Stadium hilft uns jede Kleinigkeit, und Sie kennen hier ja fast jeden.«
Rachel beobachtet, wie der Gockel sich aufplustert. Es verblüfft sie immer wieder, wie wirksam eine kleine Schmeichelei sein kann. Vor allen Dingen bei den besonders misstrauischen Kandidaten.
»Wissen Sie, es liegt mir fern, über andere zu reden. Und hier handelt es sich auch noch ausgerechnet um einen Menschen, der mir nahesteht und fast wie ein Sohn für mich ist. Außerdem weiß ich, dass er keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Wahrscheinlich haben Sie schon mit Ahmed gesprochen und sich ein Bild von ihm machen können. Er ist ein lieber Kerl, aber manchmal ist der Umgang mit ihm nicht leicht. Ich war der Vertraute seiner Mutter, müssen Sie wissen. Die Ärmste, ihr Leben verlief nicht gerade rund. Heute lebt sie vereinsamt in einer psychiatrischen Klinik. Sie ist wirklich sehr, sehr einsam …«
Jean übernimmt wieder die Führung.
»Und dieser Ahmed …«
»Ahmed war auch schon in der Psychiatrie. Aber darum geht es nicht. Sagen Sie, darf ich Ihnen im Vertrauen etwas verraten? Es muss aber unter uns bleiben …«
»Ein Geheimnis? Warum? Sam, wenn Sie etwas über den Mord wissen, müssen Sie es uns sagen.«
»Es ist nichts Weltbewegendes. Nur eine Kleinigkeit. Keine echte Information.
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