Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Hier ist weder der richtige Ort noch die richtige Zeit für eine Begegnung mit dem Mörder. Ahmed hat seinen Rücken gesehen und weiß, dass er ihn kennt, ohne den breiten, hängenden Schultern einen Namen zuordnen zu können. Ob er wohl den Mut dazu hat, wenn es irgendwann so weit ist? Irgendwann demnächst. Ein Rapstück kommt ihm in den Sinn, das er nicht kannte und das er nur stückweise aus einem in Hauts-de-Seine zugelassenen Mercedescoupé mit verdunkelten Scheiben gehört hat.
Ich geh vorbei – na und?
Sag, was glotzt du da?
Mir ist es längst zu bunt
Komm mir bloß nicht zu nah!
Du quatschst nicht mehr viel mit ’ner Glock im Mund!
Eine Glock. Eine Knarre. So etwas könnte Ahmed gut brauchen. Aber wo soll er eine Waffe herkriegen? Darüber wird er später nachdenken. Wichtig ist jetzt nur ein freundliches Gesicht. Wie üblich spielt er den Doofen, den, der ständig neben der Spur ist. Ahmed kennt Sam seit seiner frühesten Kindheit. Seine Mutter brachte ihn alle zwei Monate her, um ihm die Haare schneiden zu lassen. Und weil Sam Marokkaner war. Sie unterhielt sich auf Arabisch mit dem Frisör. Das entspannte sie. Das Kind verstand nichts. Plötzlich wird Ahmed klar, dass dies hier der einzige Ort war, an dem seine Mutter ihre Muttersprache sprechen konnte. Mit ihm selbst hat sie von Anfang an nur Französisch geredet. Worüber mochten sie gesprochen haben, der alte Frisör und die junge Exmaoistin, Tochter eines Religionsführers, die alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte? Keine Ahnung. Ahmed erinnert sich auch an Sholem, Sams Sohn. Sie waren zusammen in der fünften Klasse, hatten aber wenig miteinander zu tun. Damals war Sholem sehr eng mit Haqiqi befreundet. Seltsam, der eine ist inzwischen zum Salafisten mutiert, der andere lebt in Brooklyn, dem Mekka der ultraorthodoxen Juden. Obwohl Ahmed sich von der Außenwelt abgekapselt hat, weiß er, dass Schneerson ein Rebbe der Lubawitsch-Anhänger ist, der auf der anderen Seite des Ozeans an der Ankunft des Messias arbeitet. In einem Viertel wie diesem kann man nicht umhin, so etwas mitzubekommen. Sholem lebt jetzt also im Dunstkreis des Cousins des chassidischen Rabbis seines Viertels. Ahmed versteht nicht so richtig, warum, aber der Zusammenhang mit Brooklyn lässt ihn aufhorchen. Notgedrungen. Aber wie soll er Rachel davon erzählen, ohne durchblicken zu lassen, dass er über den Schweinebraten Bescheid weiß? Wie bloß? Er müsste mehr über Sam erfahren, um auch die anderen Dinge mit ihm in Verbindung zu bringen. Normalerweise ist Ahmed ziemlich mundfaul, doch heute beschließt er, sich anzustrengen und das Gespräch in Gang zu halten, um vielleicht einen Hinweis, ein Indiz oder gar eine Bestätigung zu bekommen. Natürlich darf er es nicht übertreiben, um nicht aufzufallen – nur eben gerade genug, um Sam wenn nötig einen Anstoß zu geben.
Wenn nötig. Sam hat es eilig, mit dem Schneiden anzufangen.
»Nun, mein Sohn, du warst lange nicht hier. Wie geht es dir? Arbeitest du noch immer nicht?«
»Mir geht es so einigermaßen. Eigentlich wie immer. Mein Arzt sagt, es wäre nicht schlecht, wenn ich allmählich wieder ein bisschen arbeiten würde. Ich werde wohl Monsieur Paul ab und zu im Laden aushelfen.«
»Sieh an, du willst also Paul helfen. Der gute Paul … Aber das ist wirklich sehr schön, mein Sohn. Mabrouk! «
Sam schweigt, besprüht Ahmeds Haar mit Wasser und lässt seine lange, schmale Schere schnappen. Ahmed versucht, sich die Durchführung des Verbrechens mit einer Schere vorzustellen, doch das funktioniert nicht. Die Schere ist zu leicht. Sie hätte allenfalls dazu getaugt, jemandem die Augen auszustechen, doch das ist eine andere Art von Mord. Sam entdeckt ein sonderbares Leuchten in Ahmeds Augen. Er erstarrt fast unmerklich. Vorsicht! Vorsicht, Sam darf nichts merken. Ahmed versetzt sich wieder in den Standby-Modus.
»Und deine Mutter?«
»Ist immer noch in der Klinik. Sie wird wohl nie wieder gesund.«
»Besuchst du sie manchmal?«
»Na ja, es ist schon eine Weile her …«
Ahmed bricht ab. Seine Intelligenz eines geübten Go-Spielers erwacht. Er spürt die Gefahr des »Meursault-Verhaltens«. Der Fremde bei Camus, der zum Tod verurteilt wird, weil er bei der Beerdigung seiner Mutter nicht geweint hat. Sam kann es nicht wissen, aber in dieser Hinsicht ist Latifas Sohn gewappnet. Als er sie vor vier Jahren das letzte Mal gesehen hat, hat sie versucht, ihn zu erwürgen. Zwei Pfleger waren nötig gewesen, um sie von
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