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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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war es nicht Fandorin, sondern Mr. Freyby. Er streckte die Hand aus, drehte den Docht der Öllampe höher, und im Zimmer wurde es hell. Ich blinzelte verwirrt.
    Die Flasche umklammernd, machte ich unentschlosseneinen Schritt auf den Butler zu. Der Ärmste war völlig unschuldig.
    »Guten Abend«, sagte Freyby höflich und blickte neugierig auf die Flasche. »I didn’t realize that you liked my whisky
that
much.«
    Er holte das Wörterbuch aus der Tasche und blätterte mit erstaunlicher Geschwindigkeit – er hatte offenbar viel geübt – die Seiten um: »Ich …war … nicht bewußt … daß Sie … lieben … mein Whisky … so … viel.«
    Das brachte mich vollends durcheinander. Einem Menschen, der einen freundlich anspricht, die Flasche auf den Kopf zu hauen, das war undenkbar.
    Er sah mein verstörtes Gesicht, brummte gutmütig, klopfte mir auf die Schulter und zeigte auf die Flasche.
    »A present. Ein Geschenk.«
    Da sah er in meiner anderen Hand die Reisetasche und sagte: »Going on travel? Tut-tut-tut?« Er ahmte eine Schiffssirene nach, und ich begriff: Freyby dachte, ich wollte verreisen und hätte beschlossen, die Flasche mit dem köstlichen Getränk mitgehen zu lassen.
    »Ja, ja«, murmelte ich. »Reise. Tänk ju.«
    Ich lief zur Tür. Das Herz sprang mir beinahe aus dem Brustkasten. Weiß Gott, was Freyby über die russischen Haushofmeister dachte. Aber auf das nationale Prestige konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.
    Im Nachbarzimmer, bei Mr. Carr, läutete die Klingel für die Diener.
    Ich hatte mich kaum hinter der Portiere versteckt, als auch schon der Lakai Lipps angetrabt kam. Tüchtig. So ist das eben, wenn eine feste Ordnung im Hause herrscht. Ich bin nicht da, aber alles läuft wie ein Uhrwerk.
    »Was wünschen der Herr?« fragte Lipps, die Tür öffnend.
    Mr. Carr brabbelte etwas, ich verstand nur das Wort »Tinte«, und der Lakai entfernte sich in löblichem Trab. Ich wich in den angrenzenden Korridor zurück, der zu meinem Zimmer führte. Dort wollte ich erst einmal abwarten. Die Reisetasche und die Flasche an die Brust gedrückt, machte ich ein paar Schritte und stieß plötzlich mit dem Rücken gegen etwas Weiches. Ich drehte mich um – ach du lieber Gott, Somow!
    »Guten Abend, Afanassi Stepanowitsch«, stammelte mein Gehilfe. »Ich wurde in Ihr Zimmer einquartiert …«
    Ich schluckte Speichel und sagte nichts.
    »Es hieß, Sie wären geflohen … Man würde Sie und Herrn Fandorin bald aufspüren und einsperren. Den Japaner haben sie schon mitgenommen. Sie sollen alle drei Verbrecher sein«, schloß er flüsternd.
    »Ich weiß«, sagte ich rasch. »Aber das stimmt nicht. Kornej Selifanowitsch, Sie hatten wenig Zeit, mich kennenzulernen, aber ich schwöre Ihnen, daß alles, was ich tue, ausschließlich dem Wohl des Großfürsten Michail dient.«
    Somow blickte mich schweigend an, und an seinem Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen, was er dachte. Würde er losschreien oder nicht – das war das einzige, was mich in diesem Moment beschäftigte. Für alle Fälle faßte ich den Flaschenhals fester.
    »Ja, ich hatte wirklich zu wenig Zeit, Sie näher kennenzulernen, aber man sieht sofort, wer ein großer Haushofmeister ist«, sagte Somow leise. »Ich bin so frei, Ihnen zu sagen, Afanassi Stepanowitsch, daß ich Sie bewundere und davon träume, so zu werden wie Sie. Und … und wenn Sie meine Hilfe brauchen, lassen Sie es mich wissen. Ich tue für Sie alles.«
    Es schnürte mir die Kehle zu, und ich fürchtete, loszuheulen.
    »Danke«, brachte ich endlich hervor. »Danke, daß Sie mich nicht verraten.«
    »Wie kann ich Sie verraten, wenn ich Sie gar nicht gesehen habe.« Er zuckte die Achseln, verneigte sich und ging.
    Dieses in jeder Hinsicht bewegende Gespräch verringerte meine Wachsamkeit, und ich bog um die Ecke, ohne erst zu schauen, ob der Korridor frei war. Zu spät sah ich, daß sich dort Lisa Petristschewa, die Zofe Ihrer Hoheit, vor dem Spiegel drehte.
    »Ah!« quiekte Lisa, ein dummes und leichtsinniges Mädchen, das obendrein bei einem Techtelmechtel mit Fandorins Diener erwischt worden war.
    »Pst!« sagte ich zu ihr. »Leise, nicht schreien.«
    Sie nickte erschrocken, doch dann rannte sie los und kreischte gellend: »Hilfe! Er bringt mich um! Er ist hiiier!«
    Ich lief in die entgegengesetzte Richtung, zum Ausgang, aber von dort erklangen aufgeregte Männerstimmen. Wohin?
    In die Beletage, wohin sonst.
    Ich hastete die Treppe hinauf und sah im halbdunklen Gang eine weiße

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