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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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schob mich zum Fenster.
    Ich erreichte die Erde, ohne mir etwas zu tun. Den Park durchquerte ich ebenfalls ohne Zwischenfälle. An der Umzäunung, hinter der die Große Kalugaer Straße lag, die um diese abendliche Zeit fast menschenleer war, blieb ich stehen. Ich wartete, bis keine Passanten in der Nähe waren, und stieg hinüber – in der Kunst des Kletterns hatte ich große Fortschritte gemacht.
    Aber was ich nun weiter tun sollte, war mir unklar. Geld hatte ich nicht, ich konnte mir nicht einmal eine Droschke nehmen. Und wohin hätte ich auch fahren sollen?
    Unschlüssig blieb ich stehen.
    Ein Zeitungsjunge kam die Straße entlang. Er war noch klein, vielleicht neun Jahre alt, und schrie aus vollem Halse,obwohl er hier kaum auf Käufer hoffen konnte: »Der neue ›Groschen‹! Die Zeitung ›Groschen‹! Das Anzeigenblatt! Der eine findet einen Kavalier, der andere ein Schätzchen! Der eine ein Quartier, der andere ein warmes Plätzchen!«
    Ich schreckte hoch, denn mir fiel Fandorins Wette ein. In der Hoffnung, einen verirrten Kupfergroschen oder eine Kopeke zu finden, kramte ich in allen Taschen. In einer Falte des Futters ertastete ich etwas Rundes, Flaches. Eine von den alten petrinischen Silbermünzen.
    Besser als nichts. Vielleicht bekam es der Junge in der Dunkelheit nicht mit.
    Ich rief ihn heran, zog ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt aus seiner Tasche und warf das Silberscheibchen in die Büchse – es klang nicht schlechter als Kupfer. Der Junge schlenderte weiter und grölte seine plumpen Verschen.
    Ich ging zu einer Laterne und entfaltete das graue Papier.
    Gleich auf der ersten Seite in der Mitte stand in großen Lettern:
    Mein Adler 27 !
    Mein demantenes Kleinod! Ich verzeihe dir!
    Ich liebe dich. Warte auf Nachricht.
    Deine Linda. Hauptpostamt, an den Besitzer der Banknote Nr. 137078859
    Das ist es! Ohne Zweifel! Und wie geschickt formuliert – wer von dem Edelstein und dem Tausch nichts weiß, sieht darin nichts Verdächtiges.
    Aber wird Fandorin die Zeitung lesen? Wie kann ich es ihm mitteilen? Wo ihn suchen? Zu dumm!
    »Na?« ertönte aus dem Dunkel die bekannte Stimme. »Dasist w-wahre Liebe. Dieses leidenschaftliche Inserat steht in allen Abendzeitungen.«
    Ich drehte mich fassungslos um: Was für ein glückliches Zusammentreffen!
    »Warum sind Sie so erstaunt, Sjukin? Es war doch klar, daß Sie, falls Sie aus dem Haus herauskommen, über den Zaun klettern. Ich wußte n-nur nicht, an welcher Stelle. Also habe ich vier Zeitungsjungen engagiert, die hier entlangspazieren und die Privatanzeigen anpreisen. Da mußten Sie ja anbeißen. So, Sjukin, die Wette haben Sie verloren. Ihr bemerkenswerter Bart muß dran glauben.«

 
    17. Mai
    Aus dem Spiegel blickte mich ein gedunsenes, dicklippiges Gesicht mit beginnendem Doppelkinn und unnatürlich weißen Wangen an. Des Schnurrbarts und des gekämmten Backenbarts beraubt, war mein Gesicht gleichsam aus einer Wolke oder aus Nebelschwaden hervorgetaucht und kam mir nackt und schutzlos vor. Dieser Anblick erschütterte mich – es war, als sähe ich mich zum erstenmal. In einem Roman hatte ich gelesen, daß der Mensch mit den durchlebten Jahren allmählich sein Selbstbildnis erschafft, indem er auf die glatte Leinwand seiner ihm bei Geburt mitgegebenen Physiognomie ein Muster aus Falten, Runzeln, Kerben und Erhebungen aufträgt. Bekanntlich gibt es kluge oder dumme Falten, gütige oder böse, lustige oder traurige. Und unter der Einwirkung dieser Zeichnung, die das Leben selbst formt, wird der eine mit den Jahren schöner, der andere häßlicher.
    Als die erste Erschütterung vorüber war und ich mein Selbstbildnis genauer betrachtete, konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich mit diesem Werk zufrieden war. Mit der Falte um den Mund vielleicht ja, sie zeugte von Lebenserfahrung und starkem Charakter. Aber die breite Kinnlade verriet ein mürrisches Wesen, und die Hängebacken ließen auf Glücklosigkeit schließen. Am verblüffendsten war, daß die Entfernung des Bartes mein Äußeres mehr veränderte, als der künstliche rote Bart es getan hatte. Ich war miteinemmal kein großfürstlicher Haushofmeister mehr, sondern ein Klumpen Lehm, aus dem man nun einen Menschen beliebiger Herkunft und beliebigen Standes formen konnte.
    Doch Fandorin, der mein neues Gesicht mit der Miene eines Kunstkenners studierte, schien anderer Meinung zu sein. Er legte das Rasiermesser weg und murmelte wie zu sich selbst: »Sie sind schlecht zu maskieren. Das Gewichtige

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