Entführung des Großfürsten
eine Runde.«
Er drehte sich auf die Seite, legte die Wange in die Armbeuge und schlief augenblicklich ein. Ein unwahrscheinlicher Mensch!
Ich weiß nicht, was mich ärger quälte: der Hunger, der Zorn oder das Bewußtsein meiner Hilflosigkeit. Doch nein, ich weiß es – die Angst. Angst um das Leben des Jungen, um Emilie, um mich.
Ja, ja, um mich. Und das ist die schlimmste Angst, die ich kenne. Ich hatte panische Angst nicht vor Schmerzen und nicht einmal vor dem Tod, sondern vor der Schande. Mein Leben lang hat mir am meisten davor gegraut, in eine schmachvolle Lage zu geraten und damit das Gefühl der eigenen Würde zu verlieren. Was bleibt von mir, wenn ich die Würde einbüße? Wer bin ich dann? Ein einsamer, unnützer, alternder Niemand mit gebuckelter Stirn, »Hundebart« und Knollennase, der sein Leben sinnlos vertan hat.
Das Rezept zur Wahrung der Würde habe ich vor langer Zeit, schon in der Jugend, entdeckt. Die Zauberformel ist kurz und einfach: Vermeide nach Kräften Überraschungen, nicht nur traurige, sondern auch freudige. Schmähliche Situationen erwachsen stets aus der Zerstörung der eingeführten Ordnung, das heißt, aus Überraschungen. Also muß man alles vorhersehen und Vorsorge treffen. Man muß gewappnet sein, gewissenhaft seine Pflicht erfüllen und darf keinen Schimären nachjagen. Danach habe ich immer gelebt. Und das Resultat? Afanassi Sjukin ist ein Dieb, ein Betrüger, ein Lump und ein Staatsverbrecher. Zumindest denken das die Menschen, deren Meinung mir wichtig ist.
Die Sonne hatte den Zenit überschritten und neigte sichallmählich gen Westen. Ich war es müde, auf der Wiese hin und her zu laufen, und setzte mich. Ein schwereloser Windhauch bewegte das frische Laub, zwischen Löwenzahnblüten summte eine Hummel, am türkisfarbenen Himmel glitten geruhsam spitzenzarte Wolken.
Schlafen kann ich sowieso nicht, dachte ich und lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm einer Ulme.
»Au-Aufwachen, Sjukin. Es ist Zeit.«
Ich schlug die Augen auf. Die Wolken zogen noch genauso gemächlich dahin, nur waren sie nicht mehr weiß, sondern rosa, und der Himmel war dunkler und näher.
Die Sonne war schon untergegangen, und das bedeutete, daß ich mindestens bis neun geschlafen hatte.
»K-Klappern Sie nicht mit den Augen«, sagte Fandorin munter. »Wir stürmen jetzt die Eremitage.«
Den langen Kutschermantel hatte er abgelegt, und in seiner Satinweste und dem dunkelblauen Hemd war er vor dem Hintergrund der sich verdichtenden Dämmerung kaum zu sehen.
Wir gingen rasch durch den leeren Park zum Schloß.
Als ich die erleuchteten Fenster der Eremitage sah, ergriff mich unaussprechliche Traurigkeit. Das Haus glich einem weißen Ozeandampfer, der zuversichtlich durch die Finsternis fährt, indessen ich, noch vor kurzem an Deck, über Bord gegangen war und nun in den dunklen Wellen strampelte und nicht einmal »Hilfe!« zu rufen wagte.
Fandorin unterbrach meine trüben Gedanken: »Wessen Fenster ist das – im Erdgeschoß das d-dritte von links? Sie gucken in die falsche Richtung – das da, das offensteht, in dem kein Licht brennt.«
»Es ist das Zimmer von Mr. Freyby.«
»Können Sie klettern? Na schön, vorwärts!«
Wir überquerten die kleine Wiese, drückten uns an die Wand und schlichen zu dem Fenster. Fandorin hielt mir die zusammengelegten Hände hin und hievte mich so geschickt hoch, daß ich mühelos über das Fensterbrett steigen konnte. Er folgte mir.
»Sie bleiben hier. Ich bin b-bald zurück.«
»Und wenn Mr. Freyby kommt?« fragte ich in Panik. »Wie soll ich ihm meine Anwesenheit erklären?«
Er blickte sich im Zimmer um und griff nach einer Flasche, in der eine braune Flüssigkeit plätscherte – wahrscheinlich der berüchtigte Whisky, von dem mich der Butler neulich kosten ließ.
»Da, nehmen Sie. Hauen Sie ihm die über den K-Kopf, fesseln Sie ihn und stecken Sie ihm einen Knebel in den Mund – hier, die Serviette. Hilft nichts, Sjukin, wir handeln unter außergewöhnlichen Umständen. Später entschuldigen Sie sich bei ihm. Das fehlte uns noch, daß der Engländer Krach schlägt. Und zittern Sie nicht so, ich bin gleich zurück.«
Er kam wirklich nach fünf Minuten wieder. In der Hand hatte er eine Reisetasche.
»Hier drin ist das A-Allernötigste. Mein Zimmer ist durchsucht worden, aber es fehlt nichts. Masa ist nicht an seinem Platz. Ich gehe ihn s-suchen.«
Ich blieb wieder allein, abermals nicht lange. Bald öffnete sich die Tür.
Doch dieses Mal
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