Entführung des Großfürsten
Gestalt. Die Großfürstin Xenia!
Ich blieb wie angewurzelt stehen.
»Wo ist er?« fragte Ihre Hoheit rasch. »Wo ist Erast Petrowitsch?«
Unten stampften viele Stiefel.
»Sjukin ist da! Festnehmen!« hörte ich einen herrischen Baß.
Die Großfürstin nahm mich an der Hand.
»Zu mir!«
Wir schlugen die Tür hinter uns zu, kurz darauf liefen etliche Leute über den Korridor.
»Zimmer durchsuchen!« kommandierte der Baß.
Plötzlich ertönten unten Schreie, jemand brüllte: »Halt, stehenbleiben, du Aas!«
Ein Schuß krachte, dann ein zweiter.
Die Großfürstin stöhnte auf und taumelte, ich mußte sie am Arm stützen. Ihr Gesicht war kreideweiß, und die Augen wirkten durch die geweiteten Pupillen schwarz.
Im Parterre zersplitterte eine Scheibe.
Die Großfürstin stieß mich heftig zurück und stürzte zum Fenster. Ich ihr nach. Wir sahen unten eine dunkle Gestalt, offenbar gerade aus dem Fenster gesprungen.
Es war Fandorin – ich erkannte die Weste.
Im nächsten Moment sprangen noch zwei Männer in Zivil aus dem Fenster und packten Fandorin bei den Armen. Die Großfürstin schrie auf.
Fandorin jedoch bewies eine erstaunliche Geschmeidigkeit. Obwohl er an den Armen festgehalten wurde, bog und wand er sich elastisch und rammte dem einen Gegner das Knie in den Schritt, danach verfuhr er genauso mit dem zweiten. Beide Agenten krümmten sich, Fandorin überquerte wie ein leichter rascher Schatten die Wiese und verschwand in den Büschen.
»Gott sei Dank!« hauchte Ihre Hoheit. »Er ist gerettet!«
Männer liefen um das Haus – einige in Uniform, andere in Zivil. Jemand jagte durch die Allee zum Tor, andere setzten dem Flüchtling nach. Aber es waren nicht allzu viele Verfolger, vielleicht ein Dutzend. Wo sollten sie in dem dunklen, weitläufigen Park den flinken Herrn Fandorin suchen?
Um ihn brauchte man sich nicht zu sorgen. Aber was wurde aus mir?
Jemand klopfte an die Tür.
»Kaiserliche Hoheit! Ein Verbrecher ist im Haus! Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
Die Großfürstin gebot mir mit einer Geste, mich hinter dem Schrank zu verstecken. Dann öffnete sie die Tür und sagte ungehalten: »Ich habe eine schreckliche Migräne, und Sie schreien und trampeln hier herum. Fangen Sie Ihren Verbrecher, aber behelligen Sie mich nicht mehr!«
»Hoheit, schließen Sie wenigstens die Tür ab.«
»Gut.«
Ich hörte den Schlüssel im Schloß knirschen und trat hinter dem Schrank hervor.
»Ich weiß«, flüsterte die Großfürstin fieberhaft und umgriff fröstelnd ihre Schultern. »Das ist alles nicht wahr. Er hat keinen Diebstahl begangen. Und du, Afanassi, bist dazu auch nicht fähig. Ich habe alles erraten. Ihr wolltet Mika retten. Du mußt mir nicht erzählen, was ihr euch ausgedacht habt. Sage mir nur – habe ich recht?«
»Ja.«
Sie fragte mich wirklich nichts weiter. Sie kniete vor der Ikone nieder und verneigte sich immer wieder bis zu Erde. Nie zuvor hatte die Großfürstin eine solche Frömmigkeit gezeigt, auch nicht als Kind. Sie flüsterte etwas, wahrscheinlich ein Gebet, aber es war nichts zu verstehen.
Sie betete unerträglich lange. Mindestens eine halbe Stunde. Ich stand und wartete. Zwischendurch legte ich die Flasche Whisky in die Reisetasche. Ich konnte sie ja nicht gut im Zimmer Ihrer Hoheit lassen.
Erst als im Hause alles still geworden war und aus dem Park, sich laut unterhaltend, die Verfolger zurückkehrten, erhob sich die Großfürstin von den Knien. Sie trat zum Sekretär, hantierte dort mit etwas leise Klirrendem und rief mich.
»Nimm das, Afanassi. Ihr braucht Geld. Ich habe keins, das weißt du selber. Aber hier sind Opalohrringe und eine Brillantbrosche. Der Schmuck gehört mir, nicht der Familie. Du kannst ihn verkaufen. Wahrscheinlich ist er viel wert.«
Ich versuchte zu widersprechen, aber sie wollte nichts hören. Um einen langen Streit zu vermeiden, für den jetzt keine Zeit war, steckte ich den Schmuck ein und nahm mir fest vor, ihn der Großfürstin zurückzugeben.
Dann holte sie aus dem Schrank den langen Seidengürtel eines chinesischen Morgenmantels.
»Binde ihn an den Fensterriegel und laß dich hinunter. Bis zur Erde reicht er nicht, du wirst springen müssen. Aber du bist ja mutig und hast keine Angst. Gott schütze dich.«
Sie bekreuzigte mich und küßte mich plötzlich auf die Wange. Ich wurde ganz verlegen, und sicherlich aus Verlegenheit fragte ich: »Soll ich Herrn Fandorin etwas ausrichten?«
»Daß ich ihn liebe«, antwortete sie knapp und
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