Entführung des Großfürsten
Sperlings-Park, der nach englischem Vorbild angelegt wurde und einen natürlich gewachsenen W-Wald imitiert«, erzählte Fandorin wie ein Reiseführer. »Beachten Sie die Hängebrücke, die jene Schlucht dort überspannt. Genauso eine Brücke habe ich im Himalaja gesehen, nur war sie dort aus Bambusrohr geflochten. Und sie überspannte nicht eine Schlucht von vierzig Metern, sondern einen Abgrund von mehr als z-zwei Kilometern. Doch der Unterschied ist unwesentlich für den, der hinunterstürzt … Aber was haben wir denn da?«
Er beugte sich hinab und zog unter dem Sitz eine einfache Angel hervor. Nachdem er sie interessiert betrachtet hatte, drehte er den Kopf hin und her und pflückte mit einem freudigen Ausruf eine grüne Raupe von der Bootswand.
»Also dann, auf gutes Gelingen!«
Er senkte die Angelschnur ins Wasser und zog im nächsten Moment eine handgroße silbrige Plötze heraus.
»Nicht schlecht, was?« rief er aufgekratzt und hielt mir seinen zappelnden Fang unter die Nase. »Haben Sie das gesehen? In nicht mal einer M-Minute! Ein sehr gutes Omen! Genauso werden wir Lind fangen!«
Wie ein kleiner Junge! Ein großspuriges, bedenkenloses Jüngelchen. Er steckte das nasse Fischlein in die Manteltasche, und die bewegte sich wie lebendig.
Vor uns kam schon die bekannte Brücke in Sicht – dieselbe, die von der Eremitage aus zu sehen war. Bald erspähte ich zwischen den Baumkronen auch das grüne Dach des Schlosses.
Fandorin band das Boot los. Als die Flöße vorüber waren, nahmen wir Kurs auf das rechte Ufer und waren eine Viertelstunde später vor der Umfriedung des Neskutschny-Parks.
Diesmal bezwang ich das Hindernis anstandslos – die inzwischen gesammelte Erfahrung machte sich bemerkbar. Wir schlugen uns durchs Gebüsch, hielten aber Abstand zur Eremitage.
»Hier werden sie uns nicht suchen«, erklärte Fandorin und streckte sich im Gras aus. »Trotzdem ist es besser, die D-Dunkelheit abzuwarten. Haben Sie Hunger?«
»Und wie. Haben Sie denn was zu essen?« fragte ich hoffnungsvoll, denn mir knurrte seit langem der Magen.
»Da.« Er zog seinen Fang aus der Tasche. »Haben Sie noch nie rohen Fisch probiert? In Japan essen das alle.«
Natürlich lehnte ich solch absurde Nahrung ab und sah nicht ohne Ekel zu, wie Fandorin sich die glitschige kalte Plötze schmecken ließ, wie er elegant die kleinen Gräten herauslöste und abnagte.
Nach diesem barbarischen Mahl wischte er sich mit einem Taschentuch die Finger ab, holte Streichhölzer hervor und förderte aus einer Innentasche eine Zigarre zutage. Er schüttelte kurz die Schachtel und teilte zufrieden mit: »Wieder trocken. Sie rauchen ja nicht?«
Er nahm genußvoll einen tiefen Zug und legte einen Arm unter den Kopf.
»Ist das nicht ein schönes P-Picknick? Wie im Paradies.«
»Paradies?« Ich richtete mich auf, so erbost war ich. »Die Welt stürzt vor unseren Augen zusammen, und Sie reden vom ›Paradies‹? Die Grundfesten der Monarchie wanken, ein unschuldiges Kind wird von Verbrechern gequält, die edelste aller Frauen wird vielleicht in diesem Augenblick …« Ich verstummte, denn nicht alle Dinge lassen sich aussprechen. »Ich sehe nur Chaos. Und es gibt auf der Welt nichts Schlimmeres als das Chaos, denn aus dem Chaos entsteht Wahnsinn, alle Regeln werden außer Kraft gesetzt …«
Ich mußte husten und konnte meinen Gedanken nicht zu Ende bringen, aber Fandorin verstand mich und hörte auf zu lächeln.
»Wissen Sie, Afanassi Stepanowitsch, worin Ihr Fehler besteht?« sagte er müde und schloß die Augen. »Sie glauben, daß die Welt nach gewissen Regeln existiert, daß sie einen Sinn und eine O-Ordnung hat. Doch ich habe längst begriffen: Das Leben ist nichts anderes als Chaos. Es hat keine Ordnung, auch keine Regeln.«
»Aber Sie selber erwecken den Eindruck eines Menschen mit festen Regeln«, konnte ich mich nicht enthalten zu sticheln, während ich auf seinen schnurgeraden Scheitel blickte, der alle Abenteuer und Erschütterungen unbeschadet überstanden hatte.
»Ja, ich habe Regeln. Aber das sind meine eigenen R-Regeln, die ich für mich und nicht für die ganze Welt aufgestellt habe. Soll die Welt nach ihrem Gusto leben und ich nach meinem. Soweit das geht. Eigene Regeln, Afanassi Stepanowitsch, das ist nicht der Wunsch, das ganze Weltgebäude einzurichten, sondern der Versuch, das allernächste U-Umfeld zu ordnen. Nicht mehr. Und selbst eine solche Kleinigkeitgelingt mir nicht besonders … Na schön, Sjukin, ich schlafe
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