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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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für Landwirtschaft und Reichsvermögen gemacht, und ich sah imposant aus. Weshalb spazierte so ein solider Mann mit glattrasiertem Gesicht und mit gestärktem Kragen so viele Stunden zwischen schäbigen Stehpulten umher? Ein paarmal stellte ich mich wie zufällig vor einen schartigen Spiegel, um die hereinkommenden Besucher unauffälliger beobachten zu können. Was soll ich’s verheimlichen – ich wollte mich auch selber betrachten.
    Das Äußere eines Beamten sechster Klasse stand mir, wieich fand, so gut zu Gesicht, als wäre ich schon mit den goldverzierten samtenen Kragenspiegeln und dem Wladimir-Orden am Hals (auch aus der Reisetasche) auf die Welt gekommen. Keiner der Besucher starrte mich verwundert oder mißtrauisch an – ich war eben ein Beamter. Nur der Angestellte am Schalter für postlagernde Briefe warf hin und wieder einen prüfenden Blick in meine Richtung. Ich stolzierte ja auch seit drei Uhr nachmittags an ihm vorbei. In den Tagen der Krönungsfeierlichkeiten hatte das Postamt wegen der Flut postalischer Sendungen bis neun Uhr geöffnet, so daß ich ziemlich lange auf und ab gehen mußte.
    Die prüfenden Blicke des Angestellten machten mir keine Sorgen. Schlimmer war, daß die Zeit nutzlos verstrich. Niemand wies an dem Schalter eine Banknote vor. Niemand hielt sich verdächtig lange auf. Es kam auch niemand zum zweitenmal herein.
    Gegen Ende des Tages erfaßte mich gelinde Verzweiflung. Hatte der Doktor unseren Plan durchschaut, war alles gescheitert?
    Doch fünf Minuten vor neun, kurz vor Schließung des Postamtes, kam mit raschem, zielstrebigem Gang ein stattlicher Seemann mit grauem Schnauzbart, in dunkelblauer Jacke und mit Mütze ohne Kokarde durch die Tür – dem Aussehen nach ein Bootsmann oder Schaffner im Ruhestand. Ohne nach rechts und links zu blicken, ging er schnurstracks zu dem Schalter mit der Aufschrift Poste restante und kollerte mit heiserer Säuferstimme: »Hier muß ein Briefchen für mich liegen. Für den Besitzer der Banknote mit der Nummer …« Er kramte ein Zettelchen hervor, hielt es weitsichtig von den Augen weg und las vor. »Eins drei sieben null sieben acht acht fünf neun. Ist was da?«
    Ich schlich mich lautlos heran, bemüht, das Zittern in den Knien zu bemeistern.
    Der Postangestellte glotzte den Seemann an.
    »So einen Brief gibt’s nicht«, sagte er schließlich. »Heute ist nichts Derartiges eingegangen.«
    Wie ist das möglich? dachte ich bestürzt. Wo soll der Brief denn sonst sein? Dann habe ich sechs geschlagene Stunden vergebens hier herumgestanden!
    Der Bootsmann knurrte: »Einen alten Mann umsonst herscheuchen. Pfui Teufel!«
    Er runzelte verärgert die dichten Augenbrauen, fuhr sich mit dem Ärmel über den buschigen Schnauzer und ging zum Ausgang.
    Klar war nur eines – ich mußte hinterher. Noch länger zu warten war sinnlos. Das Postamt wurde ohnehin geschlossen.
    Ich schlüpfte auf die Straße und folgte dem Alten in respektvollem Abstand. Er drehte sich kein einziges Mal um. Die Hände in den Taschen, ging er im Schaukelgang scheinbar ohne Eile, dabei aber erstaunlich zügig – ich hatte Mühe, nachzukommen.
    Von der Verfolgung in Anspruch genommen, fiel mir erst nach einer Weile ein, daß mir laut Plan eine ganz andere Rolle zugedacht war – die des Lockvogels. Ich sollte prüfen, ob mich jemand beschattete. Zu diesem Zweck zog ich aus der Westentasche die Uhr, in die Fandorin einen kleinen runden Spiegel eingebaut hatte, und tat so, als schaute ich aufs Zifferblatt.
    Tatsächlich! Zwanzig Schritt hinter mir ging ein verdächtiges Subjekt: groß, leicht gebeugt, mit hochgeschlagenem Kragen und Schirmmütze. Er ließ mich ganz offensichtlichnicht aus dem Auge. Für alle Fälle drehte ich die Uhr so, daß ich auch die andere Straßenseite überblicken konnte, und entdeckte noch einen, nicht minder verdächtigen Kerl, der ebenfalls an meiner Person interessiert war. Sie hatten also angebissen.
    Gleich zwei! Vielleicht war auch Doktor Lind nicht weit?
    Ob Fandorin das alles sah? Ich hatte die Rolle des Köders gut gespielt, jetzt war er an der Reihe.
    Der Seemann bog in eine Seitengasse. Ich folgte ihm. Die beiden folgten mir. Es blieb kein Zweifel mehr: Sie waren Komplizen des Doktors!
    Plötzlich schwenkte der Seemann in einen engen Torweg ein. Ich verlangsamte den Schritt, von verständlicher Unsicherheit erfaßt. Wenn die beiden Kerle mir nachkamen, Fandorin aber zurückblieb oder überhaupt nicht auftauchte, war es sehr wahrscheinlich,

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