Entführung des Großfürsten
erschauerte und zog die Decke bis ans Kinn. »Das ist kein Mensch, sondern ein Ausbund des Bösen. Er hat auf mich eingeprügelt, ohne ein Wort zu sagen, und ist dabei in solche Raserei geraten, daß er mich, wenn nicht der Hausherr gewesen wäre, wohl totgeschlagen hätte. Übrigens hat mich der Hausherr – ein ziemlich hochgewachsener Mann mit mürrischem Gesicht – als einziger nicht gequält. Er war es auch, der mir Brot und Wasser brachte.«
Mademoiselle berührte vorsichtig die verpflasterte Braue.
»Erast, Sie haben gesehen, wie Lind mich zugerichtet hat, dieser Lump! Und vor allem, völlig grundlos!«
»Er ist wütend geworden, als er erfuhr, daß er zwei seiner Komplizen verloren hat«, erklärte ich. »Herr Fandorin hat den einen getötet und den anderen der Polizei übergeben.«
»Schade, Erast, daß Sie nicht beide getötet haben«, sagte sie schniefend und wischte eine Wutträne von den Wimpern. »Diese Deutschen waren richtige Tiere. Wen von den beiden haben Sie erledigt – den mit den abstehenden Ohren oder den mit den Sommersprossen?«
»Den mit den Sommersprossen«, antwortete Fandorin.
Ich hatte weder das eine noch das andere bemerkt, dazu war es in dem Torweg zu dunkel gewesen.
»Wenigstens steht der Doktor jetzt ganz allein da«, bemerkte ich.
Fandorin preßte die Lippen zusammen und sagte skeptisch: »Wohl kaum. Jemand muß ja den Jungen bewachen. Wenn das arme Kind noch lebt …«
»Oh, der Kleine lebt, da bin ich sicher!« rief Mademoiselle. »Zumindest hat er gestern abend noch gelebt. Als der Hausherr den rasenden Banville von mir wegzog, hörte ich, wie dieser knurrte: ›Wenn es nicht um den Stein ginge, würde ich ihm die Köpfe von beiden schicken – von dem Jungen und dem Weib!‹ Ich glaube, Erast, damit hat er Sie gemeint.«
»Gelobt sei der Herr!« entfuhr es mir.
Ich drehte mich zu der in der Ecke hängenden Ikone des heiligen Nikolaus um und bekreuzigte mich. Der Großfürst Michail lebte, also gab es Hoffnung!
Doch da war noch eine Sache, die mich peinigte. Nach so etwas fragt man nicht, und wenn man es tut, hat mannicht das Recht, mit einer Antwort zu rechnen. Trotzdem fragte ich: »Sagen Sie, hat man … hat man Ihnen Gewalt angetan?«
Der Klarheit halber sagte ich es auf französisch.
Gott sei Dank war Emilie nicht gekränkt, sie lächelte nur traurig.
»Ja, Athanas, man hat mir Gewalt angetan, wie Sie an meinen Beulen und Blutergüssen sehen können. Mein einziger Trost ist, daß es nicht die Gewalt war, die Sie offensichtlich meinen. Diese Herren würden wahrscheinlich eher Hand an sich legen als physischen Kontakt zu einer Frau aufzunehmen.«
Diese kühne und direkte Antwort machte mich betroffen, und ich wandte die Augen ab. Wenn mir etwas an Mademoiselle Déclic nicht gefiel, dann war es ihre unweiblich exakte Ausdrucksweise.
»Also, ziehen wir Bilanz«, erklärte Fandorin und verschränkte die Finger. »Wir haben Emilie den Klauen des Doktors entrissen. Erstens. Wir wissen jetzt, wie Doktor Lind aussieht. Zweitens. Wir können der Zarin die Kleinodien zurückgeben. Drittens. Die Hälfte ist getan. Bleiben nur noch Lappalien.« Er stieß einen Stoßseufzer aus, und ich begriff, daß die »Lappalien« ironisch gemeint waren. »Den Jungen befreien. Und Lind vernichten.«
»Ja, ja!« Mademoiselle hob ruckartig den Kopf vom Kissen. »Dieses gemeine Scheusal töten!« Sie sah mich kläglich an und sagte mit schwacher Stimme: »Athanas, Sie können sich nicht vorstellen, wie hungrig ich bin …«
Ach, was war ich doch für ein dummer, gefühlloser Klotz! Fandorin, na schön, der interessierte sich nur für Lind, aber ich, ich hätte daran denken müssen!
Ich stürzte zur Tür, aber Fandorin hielt mich an der Jacke fest.
»Wo wollen Sie hin, Sjukin?«
»Wohin schon? Ins Eßzimmer. In der Anrichte sind Käse und Gebäck und im Eisschrank Pastete und gekochter Schinken.«
»Kein Sch-Schinken. Ein Glas süßen Tee mit Rum und eine Scheibe Schwarzbrot. Mehr ist vorläufig nicht erlaubt.«
Er hatte recht. Nach dem Hungern durfte der Magen nicht mit schwerer Kost belastet werden. Ich gab vier Löffelchen Zucker in den Tee, schnitt einen ordentlichen Kanten Brot ab und goß einen tüchtigen Schuß Whisky aus der Flasche von Mr. Freyby ins Glas.
Mademoiselle trank den Tee, lächelte mit aufgeschlagenen Lippen, und ihre blassen Wangen färbten sich rosig.
Mein Herz krampfte sich in unaussprechlichem Mitleid zusammen. Wenn mir jetzt dieser widerliche Doktor
Weitere Kostenlose Bücher