Entführung des Großfürsten
Lind in die Hände fiele, der eine schutzlose Frau mit den Füßen malträtiert hatte, dann würde ich ihn an der Gurgel packen, und keine Macht könnte meine Finger lösen.
»Sie müssen jetzt schlafen«, sagte Fandorin und erhob sich. »Morgen früh entscheiden wir, wie wir weiter vorgehen. Afanassi Stepanowitsch«, sagte er auf russisch, »wären Sie einverstanden, hier im Sessel zu ü-übernachten? Für den Fall, daß Emilie etwas braucht?«
Da fragte er noch! Ich wollte nichts lieber als mit ihr allein sein. Einfach schweigen. Und wenn es sich ergab, auch über die Gefühle reden, die mir die Brust beengten. Bloß, wo sollte ich die Worte hernehmen?
Fandorin ging hinaus. Emilie blickte mich lächelnd an, und ich kläglicher, unbeholfener Tropf leckte mir unablässig dieLippen, hüstelte, ballte die Finger zur Faust und lockerte sie wieder. Schließlich brachte ich hervor: »Ich … Sie haben mir so gefehlt, Mademoiselle Déclic.«
»Sie können misch Emilie nennen«, sagte sie leise.
»Ja, gut. Das ist nicht zu intim, und nach allem, was Sie … das heißt, wir beide … das heißt, wir alle durchgemacht haben, wage ich zu hoffen, daß Sie und ich …« Ich stockte und errötete qualvoll, »daß wir beide …«
»Ja?« Sie nickte freundlich. »Spreschen Sie weiter, isch öre.«
»Daß wir nicht nur Kollegen sind, sondern Freunde.«
»Freunde?«
Mir schien, daß aus ihrer Stimme Enttäuschung klang.
»Nein, ich bin natürlich nicht so vermessen, daß ich eine besonders enge oder nahe Freundschaft im Sinn habe«, korrigierte ich mich rasch, damit sie nicht dachte, ich wolle die Situation ausnutzen und mich ihr als Vertrauter aufdrängen. »Wir sind uns einfach nähergekommen. Und ich bin sehr froh darüber.«
Mehr sagte ich nicht, denn meines Erachtens hatten unsere Beziehungen ohnehin eine wesentliche Wandlung erfahren: Wir redeten uns nun mit dem Vornamen an, ich hatte ihr die Freundschaft angeboten, und mein Angebot war offenbar wohlwollend aufgenommen worden.
»Sie betrachten misch als Freund?« fragte sie nach einer langen Pause wie zur Präzisierung.
»Ja, als einen kostbaren Freund«, bestätigte ich kühn.
Da stieß Mademoiselle einen tiefen Seufzer aus, schloß die Augen und sagte leise: »Verzeien Sie misch, Athanas. Isch bin sehr müde. Isch muß schlafen.«
Ich bemerkte nicht, wann sie einschlief. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig wie zuvor, die langen Wimpernzuckten leicht, und von Zeit zu Zeit lief ein schwacher Schatten über ihr Gesicht wie ein Wölkchen über glattes lasurfarbenes Wasser.
Ich verbrachte die Nacht zwischen kurzem schwerelosem Schlaf und Wachen. Emilie brauchte sich nur zu bewegen oder etwas tiefer Luft zu holen, schon öffnete ich die Augen, um zu sehen, ob ich ihr Wasser bringen, sie zudecken oder das Kissen richten sollte. Dieses häufige Erwachen machte mir überhaupt nichts aus, im Gegenteil, es war angenehm und sogar beglückend. Lange, sehr lange hatte ich nicht eine solche Ruhe gefühlt.
19. Mai
Am Morgen trug ich ein richtiges Frühstück auf: auf Porzellan und Silber, einer gestärkten Tischdecke. Ohne Koch etwas Anständiges zuzubereiten war natürlich unmöglich, aber immerhin gab es Omelett, Käse, Geräuchertes.
Emilie sah heute bedeutend besser aus und aß mit großem Appetit. Ihre Augen blitzten lebhaft, ihre Stimme klang voll und fröhlich. Frauen verfügen über die erstaunliche Fähigkeit, sich rasch von den schwersten Leiden zu erholen, wenn sich ihre Lebensumstände plötzlich zum Besseren wenden – ich war viele Male Zeuge solcher Verwandlungen gewesen. Wahr ist auch, daß die Gegenwart und Aufmerksamkeit von Männern die allerbeste Wirkung auf die Vertreterinnen des schwachen Geschlechts hat, und was das betraf, so behandelten wir Mademoiselle wie eine Königin.
Fandorin erschien im Morgensmoking und mit weißer Krawatte zum Frühstück, womit er offenbar demonstrieren wollte, daß die Freiheiten, zu denen er am Vorabend Zuflucht nehmen mußte, den Respekt vor dem teuren Gast nicht gemindert hatten. Ich billigte diese Geste. Ehrlich gesagt, waren meine Gedanken in die gleiche Richtung gegangen, nur hatte ich im Unterschied zu Fandorin nichts zum Umziehen und mußte mich damit begnügen, mein bartloses Gesicht sorgfältig zu rasieren.
Beim Kaffeetrinken (ich saß auch mit am Tisch, denn ichwar hier nicht Haushofmeister, sondern Privatperson) kam Fandorin auf unsere Sache zu sprechen. Die Unterhaltung wurde auf französisch
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