Entführung des Großfürsten
verderben. Nein, auf Lind können wir hier nicht warten. Ich muß aber wenigstens noch p-prüfen, ob er irgendwelche Indizien zurückgelassen hat.«
Er ging wieder hinein und sammelte die herumliegende Kleidung auf, wobei ihn besonders eine staubbedeckte schmale Stiefelette interessierte, zu der es keine zweite gab.
Ich ging in den engen Korridor und schaute aus Langeweile in die schmutzige kleine Küche mit dem Kachelofen in der Ecke.
Außer einer Unmenge Schaben entdeckte ich nichts Bemerkenswertes und wollte schon weitergehen, als mein Blick auf eine kleine Falltür fiel. Darunter muß ein Keller sein, dachte ich, und eine mystische Kraft trieb mich dorthin. Ich wollte die Zeit totschlagen, solange Fandorin noch die Zimmer durchsuchte, und klappte den Deckel hoch.
Aus dem dunklen Loch wehte ein besonderer Geruch nach Pilzen, Feuchtigkeit und Erde, wonach es in einem Keller, in dem Rüben, Möhren und Kartoffeln gelagert werden, eben riechen muß.
Schon wollte ich den Deckel wieder zuschlagen, aber da erklang ein Laut, von dem es mich kalt überlief.
Es war ein schwaches, aber eindeutiges Stöhnen!
»Herr Fandorin!« brüllte ich. »Hierher!«
Ich griff mir vom Küchentisch die Petroleumlampe, zündete mit zitternden Händen ein Streichholz an und stieg hinunter, in Kälte und Dunkelheit.
Schon nach ein paar Stufen sah ich sie.
Mademoiselle Déclic lag zusammengekrümmt an der Wand, zwischen grauen Säcken. Sie hatte nur ein Hemd an, ich sah ihren schmalen blutunterlaufenen Knöchel und wandte rasch die Augen ab. Doch Schamhaftigkeit war jetzt fehl am Platze.
Ich stellte die Lampe auf ein Faß (dem Geruch nach mit Sauerkraut gefüllt) und stürzte zu Emilie.
Sie hielt den Kopf zurückgelehnt, die Augen waren geschlossen. Ein Arm war mit einer Handschelle an einem Eisenring in der Wand festgekettet. Das Gesicht der armen Mademoiselle war voller blauer Flecke und blutverkrusteter Schrammen. Das Hemd war von der runden weißen Schulter gerutscht, und ich sah über dem Schlüsselbein einen riesigen Bluterguß.
»Sjukin, sind Sie da unten?« rief Fandorin von oben.
Ich antwortete nicht, weil ich fieberhaft die anderen Ecken des Kellers absuchte. Aber nein, der Großfürst war nicht da.
»Hören Sie mich?« fragte ich, zu Mademoiselle zurückgekehrt, und hob vorsichtig ihren Kopf an.
Fandorin sprang herab und stellte sich hinter mich.
Mademoiselle öffnete die Augen einen Spalt, blinzelte gegen das Licht der Lampe und lächelte.
»Athanas, comment tu es marrant sans les favoris. J’ai te vu dans mes rêves. Je rêve toujours … 28
Sie war nicht bei sich, das stand fest. Sonst hätte sie mich keinesfalls geduzt.
Mein Herz wollte vor Mitleid zerspringen.
Fandorin hingegen war weniger sentimental.
Er schob mich beiseite und schlug die Gefangene ein paarmal sacht auf die Wange.
»Emilie, où est le prince?« 29
»Je ne sais pas …« 30 , hauchte sie, und ihre Augen schlossen sich wieder.
»Was, Sie sind nicht darauf gekommen, wer Lind ist?« Emilie sah Fandorin ungläubig an. »Und ich war sicher, daß Sie mit Ihrem Verstand längst die Lösung gefunden haben. Ach, jetzt kommt sie mir so einfach vor! Wir waren wirklich alle blind.«
Fandorin sah verwirrt aus, und ich selbst fand die Lösung überhaupt nicht einfach.
Das Gespräch wurde auf französisch geführt, denn Mademoiselle nach allem, was sie durchgemacht hatte, mit der russischen Grammatik zu quälen wäre zu grausam gewesen. Ich hatte schon früher bemerkt, daß Fandorin, wenn er sich in einer Fremdsprache unterhielt, überhaupt nicht stotterte, aber ich hatte keine Zeit gehabt, über dieses erstaunliche Phänomen nachzudenken. Nach allem zu urteilen, war seine Hemmung – ich hatte gelesen, daß Stottern eine psychische Hemmung ist – an das Russische gebunden. Sollte sich hinter diesem Stocken bei Lauten der Muttersprache eine Feindseligkeit gegen Rußland und alles Russische verbergen? Das hätte mich nicht im mindesten gewundert.
Vor einer halben Stunde waren wir in unserer gemieteten Wohnung angekommen. Fandorin hatte die Schatulle in den Händen gehalten, mir aber war eine weit kostbarere Last zugefallen: Ich trug Emilie, in Linds Umhang gehüllt, aufmeinen Armen. Ihr Körper war glatt und sehr heiß – das spürte ich sogar durch den Stoff hindurch. Wahrscheinlich kam ich deshalb so ins Schwitzen und geriet völlig außer Atem, obwohl Mademoiselle überhaupt nicht schwer war.
Wir brachten unseren teuren Gast in einem der
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