Entführung des Großfürsten
die Lösung gefunden haben. Ach, jetzt kommt sie mir so einfach vor! Wir waren wirklich alle blind!«
Fandorin und ich wechselten einen Blick, und mir schien, er wollte prüfen, ob ich vielleicht scharfsinniger wäre als er.
Leider nicht. Obwohl ich viel dafür gegeben hätte.
»Mein Gott, es ist Banville.« Sie schüttelte den Kopf, noch immer verwundert über unsere Begriffsstutzigkeit. »Jedenfalls der Mann, den wir als Lord Banville kennen. Ich habe ihn an der Stimme erkannt, dort im Keller. Als von oben geschrien wurde: ›Alarme! Fuiez-vous!‹, büßte Lind seine sonstige Vorsicht ein und rief mit seiner normalen Stimme: ›Take the kid and the slut! Run!‹ 31 Es war Banville!«
»Banville?« wiederholte Fandorin verdattert. »Aber wie ist das möglich? Er ist doch mit dem Großfürsten Georgi befreundet. Sie kennen sich schon lange.«
»Nicht so lange«, korrigierte ich und versuchte meine Gedanken zu sammeln. »Seine Hoheit hat Banville im Frühjahr kennengelernt, in Nizza.«
»Das habe ich nicht gewußt«, stammelte Fandorin, als müsse er sich rechtfertigen. »Wirklich, wie einfach …« Er wechselte ins Russische. »Eine Dummheit macht auch der G-Gescheiteste. Aber meine Dummheit ist in diesem Fall ganz unverzeihlich. Ja natürlich!«
Er sprang vom Bett auf und ging, ruckhaft gestikulierend, hastig im Zimmer auf und ab. Nie zuvor hatte ich ihn so echauffiert gesehen. Die Worte flogen ihm von den Lippen, überstürzten sich.
»Richtig, in Nizza hat Doktor Lind mit der Verwirklichung seines Plans begonnen. Er ist wahrscheinlich extra h-hingefahren, um ein passendes Opfer auszusuchen – an die Côte d’Azur kommen im Frühling so viele grands-ducs russes! Und daß im Mai in Moskau die Krönung stattfindet, war auch schon bekannt! Er schlich sich in das Vertrauen eines Mitglieds der kaiserlichen Familie ein, wurde sein Freund, erwirkte eine Einladung zu den F-Feierlichkeiten, der Rest war eine Frage der technischen Vorbereitung!«
»Dazu kommt noch eins!« unterbrach ich. »Sein Haß auf Frauen. Sie haben selbst gesagt, daß Lind keine Frauen in seiner Nähe duldet! Jetzt ist klar, warum. Also hatte Endlung recht!«
»Endlung?« fragte Fandorin mit erloschener Stimme und rieb sich so grimmig die Stirn, als wolle er bis ins Gehirn vordringen. »Ja, ja, richtig. Ich habe seiner albernen Theorie keine Bedeutung beigemessen, eben weil der Holzkopf Endlung darauf gekommen ist. Es stimmt schon: Was töricht ist, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache. Ach, Sjukin, Snobismus ist die schlimmste aller S-Sünden … Banville! Es war Banville! Und das Parfüm ›Graf Essex‹ … Wie geschickt er sich Handlungsfreiheit verschafft hat, indem er seine plötzliche Abreise vortäuschte! Und dann das sich so günstig bietende Duell! Der Schuß hat Glinski mitten ins Herz getroffen – daran erkenne ich Linds teuflische Treffsicherheit! Die vorzügliche Maskerade als exzentrischer britischer Homosexueller. Elan, filigrane Planung, unglaubliche Verwegenheit, Gnadenlosigkeit – das ist zweifellos Linds Handschrift! Und ich habe ihn wieder entwischen lassen …«
»Aber Mr. Carr ist noch da«, erinnerte ich. »Er ist doch auch ein Mann Linds.«
Fandorin winkte resigniert ab.
»Ich versichere Ihnen, Carr hat nichts damit zu tun. Sonst hätte Lind ihn nicht f-fallenlassen. Er hat den affektierten Schönling mitgebracht, um sich überzeugender zu t-tarnen und um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Lind ist für seine sybaritischen Gewohnheiten bekannt. Hol’s der Teufel, am meisten wurmt mich, daß Endlung recht hatte! Eine Bande von H-Homosexuellen – zusammengeschweißt nicht nur durch Geldgier, sondern auch durch andere Gemeinsamkeiten. Daher diese Ergebenheit und Selbstaufopferung!«
Mademoiselle, die Stirn gerunzelt, lauschte konzentriert Fandorins Wehklagen und schien alles oder fast alles zu verstehen.
»O ja, Lind haßt wirklich die Frauen«, sagte sie und lächelte bitter. »Das habe ich am eigenen Leib erfahren. In der ganzen Zeit meiner Gefangenschaft bekam ich ein Stück Brot und zweimal einen Becher Wasser. Bloß gut, daß neben mir ein Faß mit eurem gräßlichen russischen Kohl stand … Ich war angekettet, halbnackt. Gestern abend ist Banville, das heißt, Lind, heruntergekommen, wütend wie tausend Teufel, und hat mich mit den Füßen traktiert! Er muß etwas Unerfreuliches erlebt haben. Ich hatte große Schmerzen, aber noch größer war die Angst.« Emilie
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