Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
geführt.
    »Ich habe letzte Nacht wenig geschlafen, aber viel nachgedacht. Jetzt weiß ich, warum mir der unverzeihliche Fehler unterlaufen ist. Ich hatte von dem Doktor eine solche Dreistigkeit nicht erwartet, denn bei allen früheren Operationen war er sehr vorsichtig. Aber diesmal war der Einsatz enorm hoch, und Lind beschloß, die günstigste Ausgangsstellung einzunehmen. In der Eremitage konnte er alle unsere Vorbereitungen beobachten. Zusätzliche Informationen erlangte er natürlich von Mr. Carr, den er sehr geschickt mit dem Großfürsten Simeon verkuppelte. Das ergreifende Eifersuchtsdrama war sicherlich nichts weiter als ein Spektakel. Der Generalgouverneur vertraute sich dem herzigen Engländer an, und der erzählte das Gehörte dann ganz nebenbei Lord Banville.«
    »Vielleicht erklärt sich die Dreistigkeit des Doktors daraus, daß er gewillt ist, sich im Besitz einer so grandiosen Beute für immer zur Ruhe zu setzen?« vermutete Emilie. »Denn schließlich, wieviel Geld braucht ein Mensch?«
    Fandorin zog einen Mundwinkel herab.
    »Ich weiß nicht, was dieser Mensch mehr braucht – Geld oder das Verbrechen an sich. Es ist nicht einfach Habgier. Lind ist ein wahrer Poet des Bösen, ein virtuoser Ingenieur der Heimtücke und Grausamkeit. Ich bin sicher, daß er aus der Erschaffung schwindelerregender verbrecherischer Konstruktionen Vergnügen zieht, und dieses Mal hat er sich selbst übertroffen – er hat einen Eiffelturm errichtet. Wir haben dieses raffinierte Bauwerk untergraben, und es ist eingestürzt, doch die Trümmer haben dem Gebäude der russischen Monarchie wohl ernsthaften Schaden zugefügt.«
    Ich seufzte schwer bei dem Gedanken, daß die gestrige Katastrophe tatsächlich unvorhersehbare Folgen nach sich ziehen konnte. Wenn nur kein Aufstand ausbrach. Schrecklich, daran zu denken, was die Emigrantenzeitungen und die Presse der uns feindlich gesonnenen Länder darüber schreiben würden.
    »Ich habe Ihre Allegorie vom eingestürzten Turm nicht ganz verstanden, Erast, aber mir scheint, Sie haben die wichtigste Besonderheit in Linds Wesen erkannt.« Emilie nickte. »Er ist wirklich ein Poet des Bösen. Und des Hasses. Dieser Mensch ist voller Haß, trieft von Haß. Sie hätten hören müssen, wie er Ihren Namen ausspricht! Ich bin sicher, daß ihm die Abrechnung mit Ihnen nicht weniger wichtig ist als dieser unselige Brillant. Übrigens, habe ich den Doktor richtig verstanden? Der Stein ist bei Ihnen geblieben?«
    »Wollen Sie ihn sehen?«
    Fandorin zog ein zusammengefaltetes Tuch aus der Tasche und wickelte den Brillanten aus, die bläulichen Facetten versprühten in der Morgensonne Funken in allen Regenbogenfarben.
    »Wieviel Licht«, sagte Mademoiselle nachdenklich und kniff vor dem unerträglichen Strahlen leicht die Augen ein. »Ich weiß, was für ein Licht das ist. In Jahrhunderten hat der Stein eine Vielzahl von Leben ausgelöscht, und sie alle leuchten jetzt in seinem Innern. Ich wette, daß der ›Orlow‹ seit ein paar Tagen, mit neuer Nahrung gesättigt, noch heller funkelt.«
    Sie warf einen Blick auf mich, genauer, auf meinen Scheitel, und sagte: »Verzeihen Sie, Athanas, gestern war ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt und habe nicht einmal gefragt, was Ihnen widerfahren ist. Woher haben Sie diese blaurote Beule am Kopf?«
    »Ach, Sie wissen ja noch nichts!« rief ich. »Darum haben Sie auch das vom Eiffelturm nicht verstanden.«
    Ich erzählte ihr von der gestrigen Katastrophe auf dem Chodynka-Feld und schloß mit den Worten: »Lind ist nicht nur erbarmungslos, sondern auch übernatürlich geschickt. Tausende Menschen mußten ihr Leben lassen, aber er ist mit heiler Haut davongekommen.«
    »Nein, das ist nicht nur Geschicklichkeit.« Mademoiselle gestikulierte, und die Decke rutschte ihr von den Schultern.
    Wahrscheinlich sahen wir drei, von außen betrachtet, sehr komisch aus: Fandorin mit weißer Krawatte, ich in zerrissener Jacke und die Dame in eine Seidendecke gehüllt – das einzige, was wir Emilie zum Umhängen geben konnten.
    »Meines Erachtens gehört Lind zu den Leuten, die gern mit einem Schuß zwei Hasen erlegen«, fuhr Mademoiselle fort. »Als wir durch den entsetzlichen unterirdischen Gang liefen, sagte er auf deutsch zu seinen Leuten: ›Ich habe in Moskau noch vier Dinge zu erledigen: das sind der Brillant, Fandorin, Prinz Simeon und dieser Judas Carr.‹ Ich nehme also an, Erast, daß Ihre Theorie, die Eifersucht sei nur gespielt gewesen, nicht stimmt. Der

Weitere Kostenlose Bücher